Hamburg. Der Verein entstand aus drei Vereinen und war 99 von 100 Jahren erstklassig. In der HSV-Geschichte gibt's viele Parallelen zu heute.
Hamburg vor 100 Jahren – es mutet an wie eine Zeitreise in eine andere Welt. Der Erste Weltkrieg hatte die Stadt und ihre Menschen bis ins Mark erschüttert und verändert. Bis zu 120.000 Männer mussten seit 1915 auf die Schlachtfelder, 35.000 von ihnen kehrten nicht zurück und hinterließen 23.000 Kriegswaisen. Noch lange nach Ende der Kampfhandlungen warteten 10.000 Hamburger in Kriegsgefangenschaft darauf, wieder nach Hause zurückkehren zu dürfen.
Die Zahl der Arbeitslosen schnellte in die Höhe, im Dezember 1918 registrierten die Ämter 39.000 Männer ohne Broterwerb, nur drei Monate später stieg die Zahl auf 75.000 Menschen an. Lebensmittel galten als knappes Gut, Schieber und Kriegsgewinnler machten ihre krummen Geschäfte, weshalb sich ehrenamtliche Bürgerwehren zum Schutz der Bevölkerung formierten. Am 23. April 1919 wurde der „Belagerungszustand für Hamburg-Altona und Wandsbek“ ausgerufen. Die Polizei erhielt den klaren Befehl: „Wer mit einer Waffe in der Hand angetroffen oder beim Plündern erwischt wird, ist auf der Stelle zu erschießen!“
Hamburg im Elend, Notstand, Aufruhr, aber auch: im Aufbruch. Der verlorene Krieg und die Novemberrevolution führten Ende 1918 zur Abschaffung des alten Systems. Auch in Hamburg übernahm ein sozialistischer Arbeiter- und Soldatenrat die Macht, der auf Drängen von bürgerlichen und SPD-Politikern jedoch bald demokratische Wahlen ausschreiben musste. Am 16. März 1919 begann in Hamburg die Demokratie: Genossen zuvor nur wohlhabende Männer das Wahlrecht, sodass Kaufleute, Reeder und Fabrikbesitzer im Parlament für Jahrhunderte weitgehend unter sich blieben und die Politik bestimmten, wurde die Zusammensetzung der Bürgerschaft nun in freier und geheimer Wahl ermittelt – erstmals auch von Frauen.
99 von 100 Jahren erstklassiger Verein
In diese Zeit fällt einer der wichtigsten Tage der Hamburger Sport-Geschichte: Am 2. Juni 1919 entstand ein neuer Fußballclub, der in seiner nun 100-jährigen Geschichte 99 Jahre erstklassig bleiben sollte: der HSV. Als Gründungsdatum bediente man sich beim HSV von 1888 e. V. So heißt es in der ersten Satzung von 1919 unter Paragraf 1:
„Der Verein wurde am 1. Juni 1888 unter dem Namen Hamburger Fußball-Club von 1888 gegründet. Sein Sitz ist Hamburg, der Name wurde geändert durch Beschluß der Mitgliederversammlung vom 3. Februar 1914 in Hamburger Sport-Verein von 1888 e.V. Er führt laut Beschluss der Mitgliederversammlung vom 16.4.1919 nach Aufnahme des am 29. September 1887 gegründeten SC Germania und des am 5. März 1906 gegründeten FC Falke den Namen Hamburger Sport-Verein e.V. (Hamburg 88-Germania-Falke).“
Halten wir an dieser Stelle fest: Den „HSV“ gab es streng genommen schon seit 1914. Und: Von einem „Zusammenschluss“ dreier Clubs, wie es heute meistens formuliert wird, kann nicht die Rede sein. Schließlich ist zunächst Falke dem HSV von 1888 beigetreten, später dann der SC Germania „aufgenommen“ worden. Doch dazu später mehr.
Knappe Mehrheit gegen Fusion mit SC Victoria
Auslöser der spektakulären „Zusammenführung“ war der HSV von 1888, der Ende Juli 1918 eine sportlich höchst erfolgreiche Kriegsspielgemeinschaft mit dem benachbarten SC Victoria von 1895 eingegangen war. Bis ins Frühjahr 1919 hatten beide Partnervereine über eine dauerhafte Fusion diskutiert, ehe sich die Mitglieder des HSV von 1888 auf ihrer außerordentlichen Versammlung am 21. März mit 50:42 Stimmen dagegen entschieden. Die Vereinszeitung des SC Victoria notierte mit Bedauern: „Am Freitag, dem 21. März, hat unser Verbündeter, Hamburg 88, die Entscheidung getroffen, ob aus der ,Vernunftehe eine Liebesheirat werden soll‘ (…) Man entschied sich zur Lösung unserer Verbindung.
Welche Gründe zu diesem Entschluß beitrugen, entzieht sich unserer Kenntnis. Nach dem harmonischen Zusammenwirken empfinden große Kreise in Victoria aufrichtiges Bedauern über die Trennung. Gewiß, beide Vereine sind auch ohne einander lebensfähig und werden allein weiter ihren Weg gehen können.“
Waren die 88er die Rolle und den Status des kleinen Juniorpartners leid? Der gemeinsame Vertrag sah vor, dass den blau-gelben Victorianern drei Viertel der Spieleinnahmen zustanden. Oder war es das ungute Gefühl, auf der Hoheluft eigentlich nur ein „Gast“ zu sein, wenn auch gerade mal kurze 2,5 Kilometer von der eigenen Heimat, dem Rothenbaum, entfernt? Wie auch immer: Der HSV 88 ging seinen eigenen Weg.
Nach „Scheidung“ Gespräche mit Germania
Aber er ging ihn nicht allein. Unmittelbar nach Bekanntwerden der „Scheidung“ nahm man Gespräche mit dem stolzen SC Germania auf, der infolge des Krieges seine Existenz bedroht sah und sich zuvor bereits kurzfristig mit dem SV Uhlenhorst-Herta (Februar bis Dezember 1917) und dem SC Concordia (Mitte August bis Weihnachten 1918) zusammengetan hatte. Im August 1915 hatte es in den Club-Mitteilungen der Germanen noch geheißen: „Dulce et decorum est, pro patria mori!“ (Süß und ehrenvoll ist es, für das Vaterland zu sterben.)
Knapp vier Jahre später aber begründete der desillusionierte Vorstand seinen Mitgliedern gegenüber die dringende Notwendigkeit eines Beitritts zum HSV 88 wie folgt: „1887–1919, über ein halbes Menschenalter, hat der SC Germania, stets hochgeachtet von Freund und Feind, zu den bekanntesten Vereinen in der Rasensportbewegung gehört. (...) Hervorragendes wurde geleistet, und weit über Deutschlands Grenzen hinaus war unser Name berühmt. Mehr als einmal krönten Meisterehren die blau-schwarzen Farben. Auch in schweren Zeiten konnten wir uns stets behaupten. Dann kam der Krieg und zerstörte alle Hoffnungen. Reiche Ernte hielt der Tod in unseren Reihen. Jetzt, nachdem die Waffen ruhen, machen wir uns hoffnungsfreudig an den Wiederaufbau. Nur zu bald mußten wir einsehen, daß es bei den heutigen Verhältnissen ein fast allzu schweres Werk war, den um ein Mehrfaches größeren, teilweise durch die Gunst der Verhältnisse sehr stark gewordenen Rivalen die Stange zu halten. – So kam der Gedanke einer Vereinigung auf. (…) Somit hat der ruhmreiche SC Germania aufgehört zu bestehen. Mag uns auch Wehmut beschleichen, fort mit den Gefühlen. Es ist jetzt nicht die Zeit dazu.“
FC Falke war Spielstätte abhandengekommen
Dem Dritten und Kleinsten im Bunde schließlich, dem FC Falke, war schlicht die Spielstätte abhanden gekommen. Zunächst hatte der 1906 von Untertertianern der Oberrealschule in Eppendorf begründete Verein dank der Beiträge der „im Felde stehenden Falken“ die Pacht für den Sportplatz in Stellingen noch aufbringen können.
Doch schon 1916 musste der Spielbetrieb in der Heimspielstätte (am heutigen Sportplatzring) eingestellt werden. Das Spielfeld wich Schrebergärten für den Gemüseanbau. Am 12. Mai 1919 fusionierte man nach konstruktiven Verhandlungen im Hotel-Restaurant „Pilsner Hof“ am Gänsemarkt 42–43 zunächst mit dem HSV 88 und drei Wochen später als dessen Teil mit dem SC Germania. Der so entstandene Hamburger Sport-Verein e. V. zählte zum Start 844 Mitglieder. Hamburg 88 steuerte derer 452 bei, der SC Germania 286 und Falke 106.
Das erste Spiel dieses „neuen“ HSV? Gar nicht so einfach zu ermitteln. Zum Glück existiert im gut geführten Vereins-Archiv, das mittlerweile in einem fensterlosen Raum in den Tiefen der Osttribüne des Volksparkstadions untergebracht ist, ein unscheinbarer, aber prall gefüllter Leitz-Ordner. Zwischen den blauen Aktendeckeln befindet sich auf vergilbten, eng beschriebenen Schreibmaschinen-Seiten eine nahezu lückenlose Auflistung aller HSV-Spiele von Juni 1919 bis zum Bundesliga-Start im Jahre 1963, teilweise mit interessanten Randnotizen. Eine Fundgrube – nicht nur für Statistiker.
Das kuriose Resultat des Aktenstudiums: Der HSV kickte schon, als es ihn eigentlich noch gar nicht gab! Für den 1. Juni 1919, also einen Tag vor der offiziellen Vereinsgründung, ist unter dem neuen Namen bereits ein Freundschaftsspiel im Westfälischen verzeichnet. Die Begegnung beim Spielverein Viktoria von 1909 in Recklinghausen ging mit 1:4 verloren. Die historische Aufstellung mit Bombeck – Seifert, Vietzen – Wagner, Gieser, Thele – Brandt, Weyer, Krohn, Hansen und Schumacher verweist auf eine Reserve- und Reisemannschaft, fast ohne Ausnahme bestehend aus Spielern, deren Namen in den Formationen der kommenden HSV-Punktspiele nicht mehr auftauchen sollten.
Leicht verkatert in erste Mitgliederversammlung
Der Grund für diese No-Name-Truppe: Die spielstarken 88er-Asse, die das anfängliche Gerüst des neuen HSV bildeten, hatten zeitgleich noch eine andere Mission zu erledigen. Mittelstürmer Tull Harder, der Halblinke Kalle Schneider und Linksverteidiger Rudi Agte, der zugleich als Spielertrainer fungierte, kämpften beim letzten Auftritt der Kriegs- bzw. mittlerweile Friedensspielgemeinschaft gemeinsam mit acht Victorianern an der Weser erfolgreich um die norddeutsche Meisterschaft und triumphierten mit 2:0 über den Bremer SC.
Der Kommers (für die jüngeren Leser: der feierliche Umtrunk) zur Vereinsgründung in der Nacht vom 1. auf den 2. Juni avancierte somit zugleich zur Meister- und Abschiedsfeier. Noch leicht verkatert ging es für manchen 88er nur einen Tag später, am Abend des 3. Juni 1919, zur ersten Mitgliederversammlung des HSV e.V. in Zimmer 75 des Gewerbehauses am Holstenwall 12.
Am 21. Juli 1919 erfolgte schließlich der Eintrag in das Vereinsregister. Als Gründungsdatum wurde (siehe Satzung von 1919) zunächst der 1. Juni 1888 vermerkt, an dem der Hamburger FC aus der Taufe gehoben wurde. Erst ab 1934 gilt der 29. September 1887, das Gründungsdatum des SC Germania, als offizieller Geburtstag des HSV.
Auch Niko Stövhase, der Leiter des HSV-Museums, hat in den vergangenen Wochen im Archiv gewühlt und herausgefunden, dass der HSV selbst für reichlich Verwirrung bei seiner Gründungsgeschichte gesorgt hat. „In der Satzung von 1925 heißt es, dass sich der HSV von 1888 nach der Aufnahme des FC Falke mit dem SC Germania zusammengeschlossen hat“, erklärt Stövhase.
Erste Geschäftsstelle am Großen Burstah 30
Anders als 1919 ist also nur noch von dem Beitritt eines Vereins die Rede. „In der heutigen Satzung ist von einem Zusammenschluss dreier Vereine die Rede.“ Untergegangen sei deshalb, dass der 1888 unter dem Namen Hamburger Fußball-Club gegründete und 1914 umbenannte HSV der älteste echte Fußballclub der Stadt sei. „In Deutschland ist nur der im April 1888 gegründete Berliner Club BFC Germania noch länger durchgängig im Spielbetrieb.“
Unstrittig ist: Als Herz des neuen Vereins fungierte der Sportplatz am Rothenbaum, die erste Geschäftsstelle befand sich am Großen Burstah 30 (also exakt dort, wo heute das Abendblatt zu Hause ist), die Sportausschüsse tagten im Restaurant W. Jalant im Domhof, Mönckebergstraße/Ecke Bergstraße.
Als Vereinsfarben wurden rot (für die Hosen, die Geburtsstunde der „Rothosen“) und weiß (fürs Trikot) gewählt, eine Hommage an die Stadt Hamburg. Blau und Schwarz wiederum, die Farben der Gründerclubs, tauchen im Rhombus des Vereinswappens auf.
Welches Genie das schmucke HSV-Emblem einst entworfen hat, ist umstritten. Als Erfinder werden zwei Ur-HSVer gehandelt: Viele Jahre lang galt Otto Sommer als Urheber der Raute. Der Sohn des Rothenbaum-Platzwartes war bei der Vereinsgründung zwar gerade einmal 14 Jahre jung und kickte für die Schülermannschaft. Er hatte jedoch großes zeichnerisches Talent und sollte später als Werbegrafiker und Lithograf sein Geld verdienen. Eigentlich also eine stimmige Geschichte.
Ein Prachttag mit drei Siegen
Bis 1996, als die „Bild“-Zeitung mit Henry Lütjens einen anderen Schöpfer ins Spiel brachte und als Beleg hierfür einen Zeitzeugen namens Stöwahse zitierte. Dieser hatte 1957 in den Vereinsnachrichten „HSV-Post“ berichtet: „Alle Mitglieder standen treu zur Fahne, für dessen Spieltracht Henry Lütjens das Vereinszeichen, das auf der Spitze stehende blau-weiß-schwarze Quadrat erfand.“ Das wertvolle Copyright wird wohl nie mehr exakt zu ermitteln sein. Sommer und Lütjens nahmen das Rätsel um die Raute mit ins Grab.
Gesichert ist hingegen, dass für den Entwurf des HSV-Salmis die Hamburger Handelsschifffahrt die entscheidende Inspiration geliefert hat. Die charakteristische Rautenform mit ihrer hanseatisch-maritimen Ausstrahlung findet man auch heute noch auf zahlreichen Flaggen von Reedereien und Schifffahrtslinien wieder. Pate für den HSV-Rhombus soll zudem der „Blaue Peter“ gestanden haben, auf See das Flaggensignal für „Alle Mann an Bord“.
Der neue Dress mit weißem Hemd und Rothose und der Raute auf dem Herzen feierte seine Premiere beim ersten Heimspiel des neuen Vereins am 24. August 1919 (die charakteristischen schwarz-weiß-blauen Stutzen trugen die Spieler erstmals mehr als sieben Jahre später, im November 1926).
„Wir hatten unsere alten Freunde aus Bremen, den F.V. Werder, zu Gaste zur Einweihung unseres neuhergerichteten Sportplatzes“, schrieben die Vereinsnachrichten über diesen Prachttag am Rothenbaum, bei dem der HSV gleich dreimal als Sieger vom Platz ging: Erst siegten die Alten Herren mit 5:1, dann die Jungmannen mit 3:1 und schließlich auch die „Erste“ mit 5:1.
Am Anfang wechselte die Clubführung schnell
Zum ersten HSV-Vorsitzenden wurde der 88er Dr. Otto Wulf gewählt. Er blieb jedoch nur für fünf Wochen bis zum 8. Juli im Amt. Es folgten Johannes Lenzen (bis 16. Dezember 1919), Henry Barrelet (bis 13. April 1920), wieder Wulf (bis 8. Juni 1920), Walter Möller (bis 12. Dezember 1920), nochmals Barrelet (bis 14. Oktober 1921) und Paul Hauenschild (bis August 1922). Sieben Vereinsbosse binnen drei Jahren, entscheidende Männer der „ersten Stunden“ in ziemlich rasanter Rotation, die an heutige HSV-Verhältnisse erinnert.
Der Unterschied zu heute: Damals brachten die Führungskräfte zwar ihre individuellen Ideen ein, verfolgten aber einen einheitlichen Kurs, der den HSV trotz der wirtschaftlich und sozial schwierigen Verhältnisse binnen kürzester Zeit zu einer sportlichen Macht in der Stadt, im Norden, ja in ganz Deutschland aufsteigen ließ.
So hatten alle Verantwortlichen als vordringlichste Aufgabe die Zusammenstellung einer schlagkräftigen Liga-Mannschaft identifiziert. Und der HSV ließ diesbezüglich vom ersten Tag seines Bestehens an kaum etwas anbrennen. In Sachen Spielertransfers wurde konsequent geklotzt. Der HSV war schneller und frecher und dank seiner engen personellen Verflechtungen mit der hanseatischen Kaufmannschaft vor allem auch solventer als die Konkurrenz. Die Spieler, die er im Auge hatte, bekam der HSV auch meistens. Und er kümmerte sich um das Fortkommen und Wohlergehen seiner Stars, wovon gerade in den Anfangsjahren die hohe Zahl der Ligaspieler zeugt, die selbstständige Geschäftsleute waren oder wurden. So rasch die Clubrepräsentanten auch wechselten.
Rudi Agte: Starker Mann im operativen Geschäft
Der starke Mann im operativen Geschäft der Fußballsparte blieb: Rudi Agte. Bis 1923 kickte der hünenhafte Verteidiger noch selbst in der Liga und fungierte in zudem als „Außenkapitän“, eine Art Spielertrainer und Manager. Bis Anfang 1929 prägte Agte dann die Geschicke des HSV als Obmann beziehungsweise Beauftragter des Ligaausschusses.
Für die „Jungfernsaison“ verpflichtete man mit Verteidiger August Werner sowie den Läufern Carl Ohrt und Hugo Fick gleich drei namhafte Akteure von Holstein Kiel, dazu aus Schwerin Dr. Walter Borck fürs Tor. In seinem allerersten Punktspiel am 14. September 1919 fegte der HSV die Wandsbeker Concordia am Rothenbaum gleich mit 8:0 vom Platz. Ungeschlagen, mit neun Siegen und drei Unentschieden, darunter einem 2:2 beim alten Partner SC Victoria, beendete der Neuling die Hinserie und feierte die Herbstmeisterschaft. Das Ganze bei stattlichen 56:10 Toren – allein Mittelstürmer Harder hatte 20-mal „eingesendet“, wie man damals so schön sagte.
Zur Rückrunde wurde die Tabelle geteilt. Die bestplatzierten sechs Mannschaften spielten untereinander den Meister aus. Der HSV ging als klarer Favorit in diese finalen Spiele, doch das Fachblatt „Turnen, Spiel und Sport“ unkte: „Die errungenen Erfolge sind so glänzend, daß sie leicht den Blick trüben können. Die Schwächen liegen in der Geschichte der Mannschaft. Diese besitzt nur eine äußerliche Einheit. Die Spieler sind größtenteils aus fremden Kulturen hervorgegangen und nicht organisch aus den verbundenen Vereinen erwachsen. Es fehlt eine gesunde Tradition, die Blüte ist somit nur eine künstlich erzeugte und nicht durch eigene Arbeit ersprossen. Ihre Echtheit könnte erst in Stürmen der Not erwiesen werden.“
Anfang März 1920 erster Gegenwind
Wenig freundliche Worte für den Emporkömmling. Und tatsächlich: Der erste Gegenwind sollte den HSV gleich böse aus dem Kurs bringen. Anfang März 1920 frohlockten Neider und Pessimisten, die daran zweifelten, dass es möglich sei, drei Vereine „unter einen Hut“ zu bringen und alle Einzelinteressen nun einem Club unterzuordnen. Nicht wenige der 5000 Zuschauer in Altona jubelten, als Vereinsikone und Nationalmannschaftskapitän Adolf Jäger mit seinem Treffer zum 1:0 dem HSV die erste Punktspielniederlage beibrachte. Eine Woche später setzte es mit 1:3 auf der Hoheluft bei Victoria gleich die nächste Pleite und wieder eine Woche darauf mit einem 2:6 gegen den Eimsbütteler TV auch die erste Heimniederlage. Die Tabellenführung – dahin. Und der Meistertitel dazu. Ausgerechnet der SC Victoria hatte am Ende ein Pünktchen mehr auf dem Konto.
Doch am Rothenbaum ging der Blick nach vorn. Neuaufbau, Teil 2: Mit Walter Kolzen/Ludwig Breuel wurde der komplette rechte Flügel von Sperber weggeholt, Verteidiger Gustav Schmerbach zog man von Union Altona – alle drei norddeutsche Auswahlspieler. Ebenfalls neu: fürs Tor aus Rothenburgsort Hans Martens, ein Zwei-Meter-Riese mit Händen wie Bratpfannen, als Mittelläufer Karl Ernst aus Cuxhaven sowie als linker Läufer Hans Krohn (der Vater von Ex-Präsident Peter Krohn) aus der Reserve.
Nordkreismeister demütigte Hannover zweimal
Die Neuzugänge entpuppten sich als Volltreffer, sie sorgten dafür, dass der HSV in seinem zweiten Jahr seinen Briefkopf ändern durfte. 1920/21 wurde der Verein mit lediglich 15 eingesetzten Spielern – Rekord bis heute! – zunächst ungeschlagen und überlegen Nordkreismeister (65:19 Tore, 34:2 Punkte) und demütigte dann in den Endspielen um die „Norddeutsche“ zweimal den Südkreis-Champion Hannover 96 (3:1 und 8:0).
Dem wuchtigen, überfallartigen „Husarenstil“ der für die kommenden Jahre zum HSV-Markenzeichen werden sollte, hatten die meisten Gegner nichts entgegenzusetzen: Kein filigranes Klein-Klein im Mittelfeld, sondern schnelles Überbrücken desselben durch lange Bälle des Mittelläufers auf schnelle Außenstürmer, die dann ohne Unterlass in den Strafraum flankten, wo vorzugsweise „Tull“ Harder oder auch „Lud’n“ Breuel als sichere Vollstrecker lauerten.
Zum 1. Januar 1921 konnte der HSV bereits 53 Herren- und Jugendmannschaften zum Spielbetrieb anmelden. Die Mitgliederzahl hatte sich innerhalb von nur 18 Monaten auf 1650 nahezu verdoppelt. 1. Juli 1921 kaufte der Verein an der Rothenbaumchaussee 115/Ecke Hallerstraße ein großes Grundstück mit Jugendstilvilla und baute diese zum Vereinsheim aus. Ein Meilenstein: Die „Löwenburg“ beherbergte die Geschäftsstelle und entwickelte sich zum allseits geliebten Zentrum des Vereinslebens.
1923 feierte HSV ersten deutschen Meistertitel
Zufrieden war man am Rothenbaum aber deshalb noch lange nicht, zumal man in der deutschen Meisterschaft 1921 bereits in Runde 1 gegen den Duisburger SV die Segel streichen musste. Nochmals legten Agte und Co. personell nach, nun auch ohne Rücksicht auf die eigene Person. Mit dem kampfstarken Lokstedter Verteidiger Albert Beier, der Agte aus der Mannschaft verdrängte, und dem ersten Ausländer beim HSV, dem norwegischen Nationalspieler Asbjørn Halvorsen, der über ein Jahrzehnt glänzend die Rolle des Mitläufers ausfüllte, gewannen die Rothosen nochmals enorm an Qualität.
Dreimal in Folge schafften sie es fortan ins Finale um die deutsche Meisterschaft. 1922 wurden sie nach zwei abgebrochenen Endspielen mit insgesamt über fünf Stunden Spielzeit gegen den 1. FC Nürnberg (2:2 n.V. und 1:1 n.V.) am Grünen Tisch zum Meister erklärt, verzichteten aber auf den Titel. 1923 schlug man Union Oberschöneweide klar mit 3:0, und 1924 zog man gegen den Club aus Nürnberg mit 0:2 den Kürzeren.
Die alten Partner vom SC Victoria hatten da via Vereinszeitung schon längst sportlich-fair ihren Hut gezogen und erklärt: „Wir waren einst der führende Fußballverein in Hamburg. Die Zeiten haben sich geändert. Die Vormachtstellung ist auf den HSV übergegangen.“
2019 erstmals mehr als 88.000 Mitglieder
Rotherbaum: Am 1. November 1910 pachtete der Hamburger FC von 88 den Sportplatz am Rothenbaum und baute ihn nach und nach zu seiner Heimat aus. In den Oberligazeiten galt die enge Heimstätte des HSV zwischen 1947 bis 1963 als kaum einnehmbare Festung. Rund 30.000 Zuschauer fanden Platz, 1997 wurde die Kultstätte abgerissen.
Clubhaus: Am 1. Juli 1921 kaufte der HSV eine Jugendstilvilla an der Rothenbaumchaussee, die „Burg“. 1973 erfolgte der Abriss.
Titel: Am 10. Juni 1923 feierten die „Rothosen“ ihre erste Meisterschaft (3:0 gegen Union Oberschöneweide). 1928 folgte durch ein 5:2 gegen Hertha der zweite Titel. 1960, 1979, 1982, 1983 kamen vier Meisterschaften dazu. 1963, 1976 und 1987 gewann der HSV den Pokal, 1977 den Europapokal der Pokalsieger, 1983 den Europacup der Landesmeister.
Ochsenzoll: Der HSV erwarb 1928 in Norderstedt für 150.000 Reichsmark ein 120.000 Quadratmeter großes Gelände und errichtete ein Vereinsheim sowie Sport- und Trainingsplätze. Seit 2004 trainieren die Profis am Volkspark.
HSV AG: Am 25. Mai 2014 beschloss die Mitgliederversammlung mit einer Mehrheit von 86,9 Prozent, die Lizenzspielerabteilung des HSV
e. V. in die HSV Fußball AG auszugliedern. Diese wurde zum 7. Juli 2014 wirksam.
Mitglieder: Zum 1. Juni 2019 wird der HSV erstmals die Marke von 88.000 Mitgliedern übertreffen.