Berlin. Ramon Klenz (19) überrascht sich selbst und bricht einen Uralt-Rekord. Seine Trainingspartner hingegen haben das schon vorausgeahnt.
Michael Groß erinnert sich genau an diesen Moment, als er mit 14 Jahren 1978 bei der WM in Berlin auf der Tribüne saß und das Rennen von Klaus Steinbach (heute 64) sah. „Da kam dieser Typ mit seinem Rauschebart angeflogen und schwamm als erster Nichtamerikaner die 100 Freistil unter 51 Sekunden.“
Sportlich hatte sich der Frankfurter Groß (54) aber stets an Michael Kraus (62/Gladbeck) abgearbeitet, damals Platzhirsch auf Groß’ Paradedisziplin 200 Meter Schmetterling. Auf der Suche nach Zielen musste der dreimalige Olympiasieger nie weit nach hinten schauen, selbst in seinen Anfängen nicht. Schon gar keine 32 Jahre: „Da hätte ich ja bis 1948 gehen müssen.“
32 Jahre – so lange ist es her, dass der, den sie Albatros nannten, bei deutschen Meisterschaften einen nationalen Rekord über 200 Meter Delphin ins Becken schmetterte, an dem sich seither zahlreiche Schwimmer hierzulande abgearbeitet haben. Ramon Klenz wurde erst zwölf Jahre später geboren. Rennen von Groß hat der 19-Jährige nie gesehen.
Rekord-Olympiasieger Michael Phelps (USA), der Südafrikaner Chad le Clos, das sind die Schwimmer, deren Rennen er googelt. Und doch war diese Bestmarke für Klenz mehr als nur ein entferntes Ziel, sie war eine Erinnerung daran, wie schwer es für ihn werden würde, sich jemals für die Nationalmannschaft zu empfehlen.
Klenz’ Trainer: „Wie soll er das schaffen?“
Seit der Deutsche Schwimm-Verband (DSV) neue Normen festgelegt hat, die sich an Zeiten orientieren, die 2016 in Rio fürs olympische Finale gereicht hätten, war da diese Hürde, die so unerreichbar schien, dass selbst sein Trainer Veith Siebert noch vor wenigen Wochen sagte: „Dafür muss er den Groß machen. Wie soll er das schaffen?“
Das war bei den German Open Ende April in Berlin. Jenem letzten Wettbewerb am Ende eines drei Monate langen Qualifikationszeitraums, den der DSV nach den medaillenlosen Spielen in Rio auf Wunsch vieler Trainer eingeführt hatte. Klenz lag mit 1:57,90 Minuten fast zwei Sekunden über der geforderten Zeit. Wie sollte er das schaffen?
„Die ersten zwei Bahnen rutschen, dann auf der dritten aufdrehen, auf der vierten beißen“, beschrieb es Klenz selbst, nachdem ihm dieses Kunststück jetzt bei den nationalen Titelkämpfen in Berlin gelungen war: „Ich hatte zwar schon im Rennen ein ganz gutes Gefühl, aber mit so einer Zeit habe ich nicht gerechnet.“
Klenz war 2013 aus Leipzig an den Bundesstützpunkt Hamburg/Schleswig-Holstein in Dulsberg gewechselt. „Rio war viel zu weit weg für mich, auch noch die WM 2017“, fasst der Sohn der Olympiavierten Sabine Krauß (44), geborene Herbst, jene Jahre im Zeitraffer zusammen, seit denen er sich auf die 200 Meter Schmetterling konzentriert – und darauf, irgendwann diese blöde Bestmarke zu unterbieten, irgendwann den Sprung in die Nationalmannschaft zu schaffen.
Groß gratulierte seinem Rekord-Nachfolger: „Es wurde langsam mal Zeit. Ich freue mich vor allem, weil ja alle in dem Finale gut unterwegs waren und sich nun endlich wieder ein paar Pflänzchen auf der Strecke entwickeln.“ Unter den Gratulanten aus der Ferne waren auch Siebert und Klenz’ Trainingspartner Jacob Heidtmann (23), die für zusätzliche Trainingseinheiten zunächst in Hamburg geblieben und erst am Freitag angereist waren. Das Rennen hatten beide nur am Liveticker verfolgen können.
Klenz holt auch Titel über 400 Meter Lagen
„Endlich hat er mal gezeigt, was er kann“, sagte Heidtmann, nachdem Klenz sich am Freitag in persönlicher Bestzeit von 4:18,68 Minuten auch den Meistertitel über Heidtmanns Paradedisziplin 400 Meter Lagen geholt hatte: „Ramon hatte schon die ganze Zeit ein starkes Trainingsniveau. Jetzt ist der Knoten endlich geplatzt.“
Auch Siebert hatte nach der Arbeit der vergangenen Monate und den letzten Trainingseindrücken diesen Sprung jetzt erwartet: „Ramon ist das Paradebeispiel für das Kraftkonzept, dass wir hier in Hamburg seit mehreren Jahren erfolgreich umsetzen.“ Klenz, der zuletzt viel kräftiger, viel breiter geworden ist, wäre jetzt mehr denn je prädestiniert, auch die 100 Meter Schmetterling in Angriff zu nehmen. Doch da fehle ihm die Grundgeschwindigkeit. „Bei den 200 kann man mehr ins Schwimmen kommen“, findet Klenz.
Nun ist diese Zeit von 1:55,76 Minuten im Vergleich nicht auf Weltmeister- oder Olympiasieger-Niveau. Der Weltrekord ist vier Sekunden entfernt, international wird Klenz damit in diesem Jahr bisher auf Platz elf geführt. Auf europäischer Ebene aber waren im selben Zeitraum nur zwei Schwimmer schneller als Klenz, der sich nun auch über eine nachträgliche Nominierung für die EM Anfang August in Glasgow freuen darf. „Der Bundestrainer hat mich schon nach meiner Badehosengröße gefragt“, sagte Klenz und grinst.
Henning Lambertz selbst hatte vor einigen Wochen diese Hintertür aufgemacht. Ramon Klenz hat diese Chance genutzt – „und den Moonwalk durch die Hintertür gemacht“, wie es Klenz-Kumpel Heidtmann trocken sagt.