Hamburg. Vor dem Auftakt der Hockey-Weltmeisterschaft der Damen analysiert Ex-Nationaltorhüterin Yvonne Frank die Chancen.

Die Fußball-WM in Russland mag die Ausnahme von der Regel gewesen sein. Grundsätzlich gilt in fast allen Teamsportarten, dass Deutschland eine Turniermannschaft ist. Deshalb sollte sich auch niemand von der verpatzten Generalprobe in München mit Niederlagen gegen Argentinien (1:2), Neuseeland (2:3) und die Niederlande (0:4) entmutigen lassen: Wenn an diesem Sonnabend (13 Uhr/DAZN) im Olympiapark in London die Feldhockey-WM für die deutschen Damen mit dem Gruppenspiel gegen Südafrika beginnt, ist alles möglich.

Seit dem enttäuschenden achten Rang bei der WM 2014 in den Niederlanden ist viel passiert. Jamilon Mülders hat als Bundestrainer einen Verjüngungskurs durchgezogen. Es sind eine Menge sehr talentierter Spielerinnen dazugekommen, die vor allem die Einstellung mitbringen, wieder mit Stolz für Deutschland aufzulaufen. Der alte Trott ist nicht mehr da. Insbesondere an der Athletik und an der Torgefährlichkeit, vor vier Jahren unsere größten Schwachstellen, wurde mit erhöhten Umfängen an den Heimatstützpunkten und im gemeinsamen Training gearbeitet. Die Auswirkungen haben wir in Rio 2016 gesehen, als wir Olympiabronze holten.

Nächste Toptalente machen schon Druck

Nun ist Jami im vergangenen Jahr nach China gewechselt. Zu seinem Nachfolger Xavier Reckinger kann ich nichts Profundes sagen, da ich seit Rio dem Nationalteam nicht mehr angehöre. Was aber auffällt: Er lässt das Team in Mülders‘ Sinn weiterspielen, bringt aber auch viele eigene Ideen ein, um das bestehende System weiterzuentwickeln. Das finde ich grundsätzlich sehr richtig.

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Wenn wir auf die einzelnen Mannschaftsteile schauen, dann darf ich als ehemalige Nationaltorhüterin mit Freude sagen, dass wir auf meiner Position überhaupt keine Sorgen haben. Sowohl Nathalie Kubalski (Düsseldorfer HC) als auch Julia Ciupka (RW Köln) haben unter Beweis gestellt, dass sie problemlos in die Fußstapfen treten können, die Krissie Reynolds und ich hinterlassen haben. Und mit Noelle Rother, die bei meinem Verein Uhlenhorster HC spielt, und Rosa Krüger vom Harvestehuder THC machen die nächsten Toptalente schon Druck.

Weltklassespielerinnen in der Abwehr

Unsere Schwachstelle sei die Defensive, heißt es ja gern. Ich würde es etwas anders formulieren. Die Umstellung auf ein offensiveres Spielsystem bringt es zwangsläufig mit, dass man defensiv ab und an mal Federn lässt. Dann ist das ganze Team gefordert, als Defensivverbund zu funktionieren. Das gelingt noch nicht immer. Dennoch haben wir mit Janne Müller-Wieland (UHC) oder Nike Lorenz (Mannheimer HC) Weltklassespielerinnen in der Abwehr.

Viel Arbeit kommt auf das Mittelfeld zu, weil es im schnellen Umschaltspiel den Takt geben muss. Blitzschnell vom kreativen Gestalten auf das Bilden eines Bollwerks umzuswitchen, das ist nicht leicht und hat auch in der Vorbereitung nicht immer geklappt. Aber mit einer Spielgestalterin wie Anne Schröder vom deutschen Doublesieger Club an der Alster haben wir das besondere Etwas, das es braucht, um Gegner zu überraschen. Dazu ist ohne Zweifel auch unser Angriff in der Lage. An einem guten Tag halte ich eine Sturmbesetzung mit Lisa Altenburg (Alster), Charlotte Stapenhorst und Marie Mävers (beide UHC) für in der Weltspitze absolut konkurrenzfähig. Sie sind sehr torgefährlich, zielstrebig und haben viel Erfahrung.

Gruppe ist hart

Wer mich nach einer potenziellen Überraschung des Turniers fragt, dem sage ich: Lena Micheel. Und das nicht, weil auch sie beim UHC spielt, sondern weil es für mich überhaupt keine Überraschung war, dass sie mit nur fünf Länderspielen in den WM-Kader gerutscht ist. Lena ist unheimlich gereift und kann sich in London in den Vordergrund spielen. Das Geheimnis unseres Teams ist aber, dass es niemanden gibt, der im Vordergrund stehen muss. Auf den Teamgeist kommt es an, auf die Leistung im Kollektiv. Die Mischung zwischen Jung und Alt stimmt in jedem Fall.

Deshalb bin ich überzeugt, dass wir Südafrika zum Auftakt bezwingen werden. Dann geht es in der Vorrunde angesichts des neuen Modus mit erstmals 16 Teams, in dem der Erste in jeder der vier Gruppen direkt ins Viertelfinale kommt und die jeweils Zweiten und Dritten in Überkreuzspielen vier weitere Viertelfinalplätze ausspielen, um die bestmögliche Ausgangsposition. Grundsätzlich bin ich kein Freund ständiger Modusänderung. Mir wäre die Zeit zwischen den Spielen zu lang. Ich mag es lieber kürzer getaktet, fünf Gruppenspiele und anschließende K.-o.-Runde.

Unglaublicher Talentefundus

Mit Argentinien (25. Juli, 19 Uhr) und Spanien (28. Juli, 13 Uhr) haben wir nach dem Südafrika-Auftakt zwei echte Kaliber, gegen die wir uns oft schwertun, die wir aber ebenso an einem guten Tag auch schlagen können. Und dann braucht man ein wenig Glück, um es tatsächlich ins Halbfinale zu schaffen. Von mehr wage ich angesichts der Dominanz der Niederlande nicht zu träumen.

Der Titelverteidiger schöpft einfach aus einem unglaublichen Talentefundus, dazu ist die nationale Liga so stark, dass die Spielerinnen ständig auf höchstem Niveau gefordert werden. Einzig England als Olympiasieger und Gastgeber traue ich zu, unserem Erzrivalen den erneuten Triumph streitig zu machen. Australien, Neuseeland, China und Südkorea könnten es auch ins Halbfinale schaffen. Aufzeichnung: Björn Jensen