Hamburg. Ex-Fußball-Nationalspieler Per Mertesacker hatte die Debatte um Druck im Profisport in einem “Spiegel“-Interview angestoßen.
Eines weiß Jan-Lennard Struff, bevor die ersten Bälle gewechselt sind: Dass dieser besondere Druck sein Begleiter sein wird, den er nur spürt, wenn er für Deutschland im Daviscup antritt. „Der Druck im Daviscup ist größer als auf der ATP-Tour“, sagt der 27 Jahre alte Warsteiner, der an diesem Wochenende im Viertelfinale gegen Spanien in Valencia im Einzel und Doppel zum Einsatz kommen könnte. „Auch wenn es eine Ehre ist, für sein Land zu spielen, ist die Situation sehr speziell, denn man möchte natürlich unbedingt für das Team gewinnen und den Erwartungen standhalten.“
Einen Monat ist es her, dass der frühere Fußball-Nationalspieler Per Mertesacker (33/Arsenal London) in einem „Spiegel“-Interview öffentlich machte, wie sehr er körperlich und psychisch unter den Anforderungen, für sein Land erfolgreich sein zu müssen, gelitten hat. Seitdem wird, und das ist eine gute Nachricht, über das Thema sportartenübergreifend diskutiert. Und eine Frage, die sich aufdrängt, ist – gerade vor einem so wichtigen Daviscupduell – diese: Ist es für Einzelsportler grundsätzlich noch schwieriger, mit gesteigertem Druck fertig zu werden, weil sie keine Teamkollegen haben, die ihre etwaigen Unpässlichkeiten kompensieren könnten?
Nicolas Kiefer spricht von "Extrakick an Motivation"
Nicolas Kiefer ist überzeugt, dass diese These zutrifft. „Tennisspieler kennen den Druck, den Ansprüchen von Eltern, Trainern, vor allem aber ihren eigenen Ansprüchen gerecht zu werden. Aber sie haben nicht den Vorteil, sich hinter einer Mannschaft verstecken zu können“, sagt der 40-Jährige, der zwischen 1998 und 2009 in 15 Daviscuppartien aufschlug und heute als Nachwuchscoach an der TennisBase Hannover arbeitet. Er selber habe den Erfolgsdruck, für sein Land anzutreten, auch gespürt. „Ich habe ihn immer als besondere Herausforderung empfunden, als einen Extrakick an Motivation, den ich geliebt habe. Aber ich weiß, dass es nicht jedem so geht“, sagt er.
Michael Stich hat ähnliche Erfahrungen gemacht. 1993 zählte der 49-Jährige zu dem Team, das letztmals den prestigeträchtigen Mannschaftswettbewerb für Deutschland gewinnen konnte. Beim 4:1 gegen Australien gewann der heutige Rothenbaum-Turnierdirektor seine beiden Einzel gegen Jason Stoltenberg und Richard Fromberg und an der Seite von Patrik Kühnen auch das Doppel gegen Todd Woodbridge/Mark Woodforde.
„Natürlich ist es eine besondere Belastung, für sein Land siegen zu müssen. Aber ich glaube, dass das in Einzel- und Teamsport sehr ähnlich ist“, sagt der Hamburger, der persönlich nur ein einziges Mal von seinen eigenen Ansprüchen gelähmt war – im Finale der French Open 1996. „Im Daviscupfinale 1993 war ich dagegen sehr ruhig. Das erste Einzel gegen Stoltenberg war schlecht gelaufen, obwohl ich gewonnen hatte. Trotzdem war ich vor dem Doppel so entspannt, dass Patrik Kühnen noch heute davon erzählt“, sagt er.
Entscheidender Faktor: die Erfahrung
Sowohl Kiefers als auch Stichs Einschätzungen legen die Vermutung nahe, dass Einzelsportler auf Weltklasseniveau besser mit der Situation umgehen, allein im Mittelpunkt zu stehen und ihre Leistung abrufen zu müssen, weil sie von der Jugend an genau damit stetig konfrontiert sind. Dass Einzelsportler grundsätzlich mental stabiler seien als Teamsportler, weist Andy Fahlke allerdings zurück. Der 38-Jährige, der von 1997 bis 2002 selbst Tennisprofi war, arbeitet im Nordschwarzwald als Psychologe. Er sagt: „Niemand sucht sich seinen Sport aus, weil die eigene mentale Stabilität dazu passt. Deshalb gibt es in jedem Sport ganz unterschiedliche Charaktere, die alle individuell mit Druck umgehen“, sagt er.
Entscheidender Faktor dafür, mit der besonderen Belastung umgehen zu können, für sein Land siegen zu müssen, sei Erfahrung. „Du kannst eine Drucksituation wie die, in Spanien vor 10.000 heißblütigen Fans das entscheidende Daviscupmatch gewinnen zu müssen, nicht trainieren. Aber du kannst durch Erleben von Drucksituationen immer neue Erfahrungen sammeln, die helfen“, sagt er. Außerdem sei wichtig, Spitzenathleten zu vermitteln, dass lästiger Druck immer nur in ihnen selbst entsteht. „Wer es schafft, die Ansprüche von außen zu genießen, wird niemals unter Druck leiden, sofern er gut vorbereitet ist und sich nichts vorzuwerfen hat“, sagt er.
Michael Stich: "Ich hatte diese Betreuung nicht"
Daran arbeitet Nicolas Kiefer mit seinen Talenten in Hannover. „Viele werden leider immer noch an der Erwartungshaltung aus den Zeiten von Graf, Becker und Stich gemessen. Wir müssen sie davor schützen“, sagt der Holzmindener, „sie dürfen auch mal entspannter sein, müssen nicht so trainieren, dass sie ausbrennen. Weniger ist manchmal mehr.“
Das sieht auch Michael Stich ähnlich, der nicht nur Mertesackers Einlassungen als wichtige Debatte erachtet, sondern auch die Fortentwicklung in der Sportpsychologie sehr schätzt. „Zu meiner Zeit war das anders, ich hatte diese Betreuung nicht. Aber ich denke, dass sie auch auf mich positive Auswirkungen hätte haben können“, sagt der Wimbledonsieger von 1991. Er habe sich stets von der Frage leiten lassen, ob er mit einem Scheitern leben könne. „Wer das nicht kann, der wird Druck immer als negativ empfinden.“
Jan-Lennard Struff hat sich mit dem Bereich der mentalen Leistungssteigerung schon länger beschäftigt. „Die Gedanken kontrollieren zu können ist genauso wichtig wie Fitness- oder Schlagtraining. Viele Topspieler arbeiten in diesem Bereich, sprechen aber nicht offen darüber“, sagt er. Auch der Weltranglisten-60. hält Erfahrungen für unersetzlich, um die psychische Stabilität zu stärken. Und er hat gelernt, die positiven ins Zentrum zu rücken. „Jeder hat schon entscheidende Matches verloren. Aber wenn man, wie ich 2016 gegen Polen in Berlin, einen entscheidenden Punkt holt, dann ist das ein großartiges Gefühl.“ Ein Gefühl, das er an diesem Wochenende gern erneut erleben möchte.