Hamburg/Lübeck . Die ehemalige Weltklasseschwimmerin Sandra Völker hat ihr Insolvenzverfahren beendet und freut sich auf neue Herausforderungen.
Als Richter Heuer allen Anwesenden „fröhliche Ostern“ wünscht und sagt, das Osterfest sei doch ein passender Termin für einen Neubeginn, fällt Sandra Völker ihrem Vater in die Arme. Tränen fließen, die ganze Last der vergangenen zehn Jahre fällt in diesem Moment von ihr ab. „Es ist vorbei, endlich!“, sagt sie. Sandra Völker (44) lächelt, und es ist wieder so etwas wie Glanz in ihren Augen zu sehen, ein Strahlen, das Verwandte und Freunde so lange bei ihr vermisst haben.
Im Saal C15 des Amtsgerichts Lübeck Am Burgfeld 7 hat Heuer am Donnerstag um 13.30 Uhr die Gläubigerversammlung in dem Insolvenzverfahren53b IN 215/13 über das Vermögen der ehemaligen Weltklasseschwimmerin, Weltmeisterin, Weltrekordlerin und viermaligen Olympiateilnehmerin für beendet erklärt. Die beteiligten Gläubiger hatten zuvor dem Insolvenzplan von Völkers Hamburger Insolvenzverwalterin Verena Vogt zugestimmt. Ein Gönner spendet Völker zuletzt 5000 Euro, um die Abwicklung zu beschleunigen. „Es war ein außergewöhnliches Verfahren“, sagt Rechtsanwältin Vogt. „Frau Völker hat in den vergangenen vier Jahren alles getan, um so viel Geld wie möglich zurückzuzahlen. Ein solch hohes Engagement ist nicht immer selbstverständlich. Am Ende waren deshalb alle Beteiligten zufrieden.“
Änderung des Insolvenzrechts
14 Gläubiger lassen sich vor Gericht vertreten, drei sind erschienen: eine Abgesandte der Stadt Lübeck, Völkers Vater, der seiner Tochter ein privates Darlehen gewährte und den Sandra Völker von Rechts wegen als Gläubiger auflisten lassen musste, und ihre Steuerberaterin. Auch die beiden Frauen umarmen sich. Völker schuldete ihr rund 7000 Euro. Alle, die vor Gericht Ansprüche nachgewiesen haben, erhalten jetzt eine Quote von 36,5 Prozent. Die sei außergewöhnlich hoch, sagt Vogt.
Im Durchschnitt müssen sich Gläubiger in Deutschland mit der Rückzahlung von weniger als fünf Prozent ihrer Forderungen zufrieden geben. Deshalb können Schuldner seit 2014 nach einer Änderung des Insolvenzrechts ihr Verfahren auf drei Jahre verkürzen, wenn sie zusätzlich zu den Verfahrenskosten mindestens 35 Prozent aufbringen. Wird diese Grenze nicht erreicht, besteht die Möglichkeit, mithilfe eines Insolvenzplans schneller von den Restschulden befreit zu werden. Kann kein Insolvenzplan aufgestellt werden, ist eine Privatinsolvenz grundsätzlich erst nach sechs Jahren beendet. Bei Völker sind es vier Jahre und viereinhalb Monate. Die neue Regelung gilt nicht für sie. Als sie am 11. November 2013 Insolvenz anmeldet, hat sie 113.000 Euro Schulden. Rund 30.000 Euro für Verfahrenskosten, Steuern und weiteren Ausgaben kommen im Laufe der Jahre dazu.
„Ich spürte eine große Leere in mir“
Im Rückblick, sagt Völker, „gibt es immer den einen oder anderen Zeitpunkt, an dem ich anders hätte reagieren können oder müssen“. Völker ist nach der Zahl der nationalen und internationalen Medaillen, es sind am Ende ihrer Karriere mehr als 60, Deutschlands bisher erfolgreichste Schwimmerin. Sie hat gut verdient, Insider schätzen ihr damaliges Jahreseinkommen an Prämien und Sponsorengeldern auf umgerechnet mehr als 120.000 Euro. Sie investiert in einen Schiffs- und einen Filmfonds, die versprochenen Renditen bleiben aus, zudem verfällt der Wert der Fonds. Im Januar 2001 glaubt sie, sich einen Traum zu erfüllen. Sie kauft für rund 800.000 Mark (409.000 Euro) eine Eigentumswohnung in Hamburg-Winterhude, 120 Quadratmeter mit Garten – als Absicherung fürs Alter.
„Da saß ich dann auf meiner neuen Lieblingscouch, blickte ins Grüne und stellte plötzlich fest: Das bin nicht ich; das ist das Bild, das sich andere von mir machen. Ich ahnte, dass ich einem Klischee nachgelaufen bin, dass sich Erfolg im Materiellen dokumentieren muss, so wie es andere machen. Ich spürte eine große Leere in mir“, erzählt sie. Diese Erkenntnis habe sie deprimiert.
Wichtigster Sponsor ging pleite
Einen Monat später geht ihr wichtigster Sponsor pleite, eine Firma, die antiallergische Produkte vertreibt. Der langjährige Vertrag hat die Größenordnung des Kaufpreises ihrer Wohnung. Das Unternehmen soll sich zugleich am Stiftungskapital ihrer Asthma-Stiftung für Kinder und Jugendliche beteiligen, die Völker, sie leidet nach harten Trainingseinheiten auch unter Atemnot, 2001 gründet. Die Schwimmerin übernimmt die ganze Summe von 100.000 Mark (51.130 Euro), „weil ich alle, die für dieses Projekt gearbeitet hatten, nicht enttäuschen wollte“. Im Nachhinein ist dies der erste Schritt in die Insolvenz. Als erste Konsequenz verlängert sie ihren Kreditvertrag mit der Bank von 13 auf 30 Jahre, später löst sie ihre Lebens- und andere Versicherungen auf.
2007 kommt ihre erste Tochter Lotta zur Welt, die heute beim Vater lebt. Die monatlichen Belastungen bleiben hoch, sie werden zu hoch, als sie 2008 ihre Schwimm-Laufbahn beendet. Völkers Geldnot wird akut, sie fängt an, sich Geld bei Freunden und Verwandten zu leihen. Sie arbeitet weiter ehrenamtlich für ihre Stiftung, statt die Zeit zu nutzen, um mit anderen Jobs Geld zu verdienen. „Das war der nächste Fehler“, sagt sie. Sie habe aber selbst in guten Zeiten keinen verschwenderischen Lebensstil gepflegt, sich nie Luxus gegönnt, nur bei der Kleidung habe sie selten auf den Preis geachtet. „Wenn du im Fernsehen bist und auf Galas gehst, kannst du nicht immer in denselben Klamotten rumlaufen“, sagt sie.
Alleinerziehende Mutter von drei Töchtern
Trotz aller Probleme bewahrt sie sich ihren Stolz. Ein Angebot des Fernsehsenders RTL, für 50.000 Euro ins „Dschungelcamp“ einzuziehen, lehnt sie ab genauso wie die Offerte des „Playboys“, sich auszuziehen oder für die Nationalmannschaft von Katar zu schwimmen. Das dortige Frauenbild, das sie während eines Trainingslagers erlebt, habe sie befremdet. Was bleibt ist der Insolvenzantrag und Hartz IV. „Die Insolvenz war eine Befreiung. Der ständige Druck, nicht zu wissen, wie es weitergeht, wo kommt das nächste Geld für Miete und Essen her, war auf Dauer zermürbend. Ich habe nächtelang nicht schlafen können.“ Ihre Schwester Kirstin bewundert ihr Durchhaltevermögen.
Völker arbeitet nach ihrem Insolvenzantrag in Lübeck für einen Händler für vegane Produkte, gibt Schwimmtraining. 2014 werden im Rahmen des Insolvenzverfahrens ihre Medaillen, Urkunden und Badeanzüge versteigert. Die olympische Silbermedaille von Atlanta 1996 über 100 Meter Freistil bringt 28.000 Euro. „Die Plaketten habe ich verloren, die Erfolge bleiben bei mir“, sagt sie. Einige Käufer bieten ihr die Medaillen zum Rückkauf an. Bislang ist das keine Option. Viele schreiben, „wir wollten Ihnen nur helfen“. Aus der Auktion fließen 67.500 Euro in die Insolvenzmasse, später auch noch die Tantiemen ihres biografischen Buches „An Land kannst Du nicht schwimmen.“
Sie wünscht sich Urlaub
2014 und 2016 werden ihre nächsten beiden Töchter geboren. Von deren Vater trennt sie sich wieder. „Ich habe bisher nicht den liebevollen Supermann gefunden“, sagt sie. Sandra Völker lebt heute mit ihren Kindern in einem Mehrgenerationenprojekt in Scharbeutz an der Ostsee. Ihre Eltern sind zu ihr gezogen, ihre Schwester wohnt in der Nachbarschaft. Sie arbeitet gelegentlich als Wasser-Botschafterin für die Firma Blue Safety in Münster, die elektronische Anlagen zur Wasserreinigung herstellt. Dort hat sie jetzt auch einen Minijob. Beim Lübecker Schwimmverein gibt sie Seniorentraining, als Personaltrainerin will sie sich weitere Einnahmen erschließen. Nach dem Gerichtstermin fährt Völker in Lübeck ins Hörfunkstudio des NDR, spricht zum Thema „Scheitern und Neuanfang“.
Was sie sich jetzt am sehnlichsten wünscht? „Urlaub“, sagt sie, „zwei Wochen auf einem Bauernhof auf Fehmarn mit meinen Kindern ausspannen, die Sorgen des Alltags einmal ausblenden.“ Sandra Völker lacht. Sie ist mit sich im Reinen. „Ich habe mein Leben zurückgewonnen. Das ist heute das Leben, das zu mir passt. Ich habe mich endlich freigeschwommen.“