Hamburg. Zwölf Monate, zwölf Zitate – doch die erstaunlichste Aussage nach 365 Tagen Dauerkrise machte der Jubilar gestern: Er hat noch immer großen Spaß beim HSV

Allzu lange halten sich die Reporter am Tag danach nicht mit Höflichkeitsfloskeln auf. „Wollen wir direkt starten?“, fragt ein Fernsehjournalist am Morgen nach dem 0:3 des HSV in Leverkusen. Markus Gisdol schlendert mit den Händen in der Hosentasche zum provisorischen Pressepult im Bauch des Volksparkstadions. Das obligatorische Mediengespräch am Tag danach. Es gibt kaum etwas, das Gisdol so sehr verabscheut wie diesen Pflichttermin im grellen Scheinwerferlicht. Doch zumindest die Sache mit dem Scheinwerferlicht konnte er regeln. Auf seine Anweisung hin wird der Coach nur noch mit 50 Prozent ins rechte Licht gerückt. „Wissen Sie, wie heiß es hier sonst wird?“, fragte der Trainer unlängst einen Journalisten, der auf 100 Prozent bestehen wollte. Nur die Fragen, die werden weiter mit 100 Prozent gestellt.

„Herr Gisdol, hat der Alltag Sie wieder?“, fragt am Vormittag der Können-wir-starten-Journalist direkt. „Wie meinen Sie das?“, kontert Gisdol, dem der Reporter ein weiteres Wort wie einen Peitschenhieb zuruft: „Abstiegskampf!“

An diesem Dienstag ist Markus Gisdol auf den Tag ein Jahr als HSV-Trainer im Amt. Ein Jahr Dauerkrise, ein Jahr Existenzkampf und ein Jahr voller Fragen am Tag danach. 365 Tage zwischen „Hamburg ist ein Brett. Der HSV ist ein wahnsinnig geiler Verein“ und „Herr Gisdol, hat der Alltag Sie wieder?“

Das nur noch zu 50 Prozent grelle Scheinwerferlicht geht aus. Gisdol kehrt den Kamerateams den Rücken, geht in Richtung Kabine, hält aber noch einmal an. „Es geht ja immer wahnsinnig schnell hier in Hamburg“, sagt der Fußballlehrer, der sich am liebsten einzig und alleine um Fußball kümmern würde. Als einer den Coach auf das Ergebnis der Bundestagswahl anspricht, verdreht Gisdol die Augen. „Meine Gedanken sind einzig und alleine beim Fußball“, antwortet der 48-Jährige. „Ich habe meine Meinung. Aber die werde ich nur kundtun für das, für das ich hier angestellt bin – und das ist Fußball. Zur Politik sollen sich andere äußern.“

Dabei weiß kaum einer so gut wie Gisdol, dass Fußball auch Politik ist. Beim HSV ein bisschen mehr, bei 1899 Hoffenheim ein bisschen weniger.

Die erste Hochrechnung nach genau einem Jahr liest sich ordentlich – nicht mehr, aber auch nicht weniger. In 35 Partien holte Gisdols Mannschaft 43 Punkte. Zwölf Siege, sieben Unentschieden, 16 Niederlagen. Gisdols HSV deklassierte Leipzig mit 3:0, bezwang Schalke und gewann auch gegen Hoffenheim 2:1. Da zeigte seine Mannschaft das eine Gesicht. Dann unterlag sein Team 0:4 in Augsburg, ließ sich 0:8 in München abschlachten und verlor nun vier Spiele mit insgesamt 0:10-Toren in Folge. Das war das andere Gesicht.

„Ich sehe das ein wenig differenzierter“, sagt Gisdol am Montagvormittag. „Unser Ziel ist es, dass wir in dieser Saison nichts mit dem Abstiegskampf zu tun haben.“ Der Schwabe atmet einmal tief durch. „Und dieses Ziel können wir noch immer schaffen. Zur Erinnerung: Es sind gerade einmal sechs Spiele in der noch jungen Saison absolviert.“

Sechs Partien, die in der Gesamtheit aber nur wenig Verheißungsvolles für die noch folgenden 28 Spiele versprechen. Der HSV hat in den vergangenen vier Spielen zehn Gegentore kassiert – kein Team war schlechter. Der HSV hat keinen Treffer erzielt – keiner war schlechter. Und auch spielerisch lautet das Fazit: Keine Mannschaft war schlechter. Unter dem Strich bedeutet das vor dem Nord- und Notderby gegen Bremen nur eines: Abstiegskampf!

„Wir müssen nicht zu früh in Horrorszenarien verfallen“, kontert Gisdol, der gleichzeitig betont, dass ihm derzeit die Hände gebunden seien. „Wir sollten nicht ständig über die Personalpolitik sprechen“, sagt er, und spricht dann vor allem über die Personalpolitik: „Ich habe mehrfach auf unsere Situation hingewiesen. Das ist keine Frage.“

Im Sommer hatte Gisdol einen kühnen Plan: Nicolai Müller und Filip Kostic sollten seine Schlüsselspieler in der Offensive werden, zudem wollte er besonders junge Spieler an den Profikader heranführen. Er sehe sich eher in der Rolle des Entwicklers als in der des Retters, hatte er im Trainingslager in einem Interview mit dem „Kicker“ gesagt.

Zwei Monate später ist von dem kühnen Plan nicht viel übrig. Müller und Kostic? Langzeitverletzt. Und die jungen Spieler? In der plötzlichen Rolle als Sofortverstärkung überfordert. Gegen Leverkusen war es der bald 33 Jahre alte und bis vor Kurzem arbeitslose Sejad Salihovic, der das Spiel lenken sollte.

Wie er denn die Tendenz bewerte, dass in der Bundesliga die Trainer nach wenigen Spielen und Niederlagen oft schon wieder entlassen würden, will ein Medienvertreter zum Ende der Frage-und-Antwort-Runde wissen. Gisdol tut so, als ob er die Frage nicht so richtig verstanden hätte, obwohl er sie selbstverständlich ganz genau verstanden hat. „Ich kann das nicht beurteilen“, antwortet der Schwabe, dem trotz allem nach einem Jahr HSV eines wichtig ist: „Es gab noch keinen Tag, der mir hier keinen Spaß gemacht hat.“ Das Verrückte an der Antwort: Gisdol meint es ernst.