Bei der Tour de France glänzte Marcel Kittel mit fünf Etappensiegen. Vor den Cyclassics spricht der deutsche Sprintprofi über die Lust und das Risiko, mit 70 km/h Richtung Ziellinie zu rasen
Wer fünf Etappen bei der Tour de France gewinnen kann, der muss sich nicht darüber wundern, auch bei den Cyclassics zu den Topfavoriten gezählt zu werden. Und das tut Marcel Kittel auch nicht. Der 29-Jährige aus Arnstadt, der an diesem Sonntag (Start 11.25 Uhr, Zieleinlauf gegen 16.45 Uhr/ARD und Eurosport live) bei der 22. Auflage des Eintages-Radrennens zum vierten Mal in Hamburg antritt, würde gern fünfter deutscher Sieger nach Jan Ullrich (1997), Erik Zabel (2001), John Degenkolb (2013) und André Greipel (2015) werden. Die Verletzungen am rechten Arm und der rechten Schulter, die ihn fünf Tage vor dem Finale in Paris zum Tour-Ausstieg zwangen, hat er inzwischen auskuriert.
Herr Kittel, die körperlichen Schmerzen des Tour-Ausstiegs haben Sie überwunden. Wie lange hat es gedauert, auch die seelische Pein hinter sich zu lassen, nicht als erster Deutscher seit Erik Zabel 2001 das Grüne Trikot des Sprintbesten gewonnen zu haben?
Marcel Kittel: Das war natürlich eine bittere Enttäuschung. Erst in der vergangenen Woche, als ich spontan bei der BinckBank-Tour in Belgien und den Niederlanden gestartet bin, habe ich mich nicht mehr wie ein Zombie auf dem Rad gefühlt. Jetzt habe ich meine Reserven wieder aufgefüllt und bin bereit für Hamburg.
Welchen Stellenwert haben die Cyclassics für Sie?
Hamburg ist das wichtigste deutsche Rennen, allein das beschreibt schon den Stellenwert. Für mich persönlich ist es umso schöner, weil es ein klassisches Sprinterrennen ist, bei dem ich die Chance habe, um den Sieg mitzufahren. Und das werde ich versuchen.
Sie sind das, was man einen Sprintspezialisten nennt. Können Sie beschreiben, was Sie fühlen, wenn Sie in einem Pulk von Fahrern mit 70 Stundenkilometern auf das Ziel zurasen mit dem Vorhaben, der Schnellste zu sein?
Ich fürchte, das ist schwer zu verstehen, wenn man es selbst nicht erlebt hat. Bei mir ist es so, dass ich an Tagen, an denen ich gute Beine habe und vor allem der Kopf richtig mitspielt, das Gefühl habe, einfach nur mitzuschwimmen. Ich folge nur den Hinterrädern der Konkurrenten, halte durch die Fokussierung darauf meine Position und realisiere gar nicht die Geschwindigkeit, mit der ich unterwegs bin. Das ist, als würde ich durch einen Tunnel fahren, der mich ins Ziel führt. Es ist wie ein Grundrauschen, ein Automatismus, den ich abspule.
Und was ist an Tagen, an denen der Kopf nicht mitspielt und die Beine auch nicht gut sind?
Dann nehme ich die Gefahr, in der ich mich befinde, umso deutlicher wahr.
Das heißt, das Bewusstsein für die Gefahr, die diese Sprintsituationen mit sich bringen, haben Sie noch immer, müssen es aber ausblenden, um erfolgreich fahren zu können? Oder ist gerade die Gefahr groß, durch Ausblenden zu viel Risiko zu gehen?
Die Angst ist ein schwieriges Thema. Ich bin mir der Gefahr bewusst, nehme sie aber hin als Teil meines Sports. Das ist genauso wie bei einem Boxer, der auch einkalkuliert, dass er schwere Treffer einstecken könnte, aber versucht, genau das zu vermeiden. Würde ich in Sprintsituationen darüber nachdenken, was passieren kann, wäre das absolut leistungsmindernd.
Das mag sein, trotzdem muss man es ja erst einmal schaffen, nicht darüber nachzudenken. Wie geht das?
Bei mir geht das durch Erfahrung. Wenn man sein halbes Leben solche Situationen immer wieder durchläuft, geht vieles intuitiv. Dennoch habe ich auch heute noch einen Sinn für das Risiko, dessen ich mich aussetze. Wenn ich sehe, dass die Lücke nicht ausreichend groß ist, um eine Attacke zu starten, dann warte ich ab, bevor ich einen Sturz riskiere.
Gibt es Momente, in denen Sie sich erschrecken, wenn Sie Szenen aus Rennen in der TV-Analyse sehen? Wo Sie erst im Nachhinein merken, wie gefährlich das eigentlich gewesen ist?
Kaum, denn ehrlich gesagt wirken TV-Bilder oft langsamer, als die Situationen in der Realität sind. Vieles können die Kameras gar nicht einfangen, beispielsweise, wie eng es manchmal ist, wenn wir an Barrieren vorbeirasen. Ich schaue mir Finals immer noch einmal an, aber meist überrascht mich dabei nichts, weil die Situation im Rennen deutlich bedrohlicher ist. Gerade das Einschätzen von Abständen ist etwas, das im Fernsehbild nicht so gut möglich ist wie auf der Strecke.
Würden Sie sagen, dass das Auge für die Lücke, das Sie auszeichnet, Ihre wichtigste Eigenschaft ist?
Das Auge, gepaart mit einer gewissen Coolness, die man auch als Geduld bezeichnen könnte. Es gibt grundsätzlich zwei Arten von Sprintern. Die, die versuchen, durch möglichst aggressive Angriffe vorn zu landen. Und die, zu denen ich mich auch zähle, die mit Auge und Geschwindigkeit zum Ziel kommen. Die auch abwarten können und nicht durch Aktionismus auffallen müssen.
Wie schulen Sie dieses Auge?
Durch Erfahrung in konkreten Situationen. Ich glaube allerdings, dass der Instinkt die größte Rolle spielt. Man merkt schnell, ob ein Fahrer cool bleiben und abwarten kann, wie sich ein Rennen oder ein einzelner Sprint entwickelt. Das ist auch eine Frage des Charakters.
Arbeiten Sie konkret mit einem Mentaltrainer, um die Konzentrationsfähigkeit zu optimieren?
Nein. Aber ich versuche sehr viel zu reflektieren, wie sich einzelne Situationen entwickelt haben, ob ich angemessen reagiert habe oder was ich hätte besser machen können, um entsprechend gegenzusteuern. Ich hatte das Glück, gute Trainer zu haben, die diese Dinge geschult haben. Dadurch habe ich eine mentale Lockerheit gewonnen, die im Radsport sehr wichtig ist.
Kann man im Training überhaupt eine Sprintankunft simulieren?
Nein, dafür braucht man Wettkämpfe. Natürlich machen wir im Training Übungen mit den Anfahrern, aber es ist ein riesiger Unterschied, ob man fünf Mann um sich herum hat oder ein ganzes Feld, in dem alle verbissen um den Sieg kämpfen. Deshalb wird man nur durch jahrelange Erfahrung ein guter Sprinter.
Können Sie den Moment erinnern, als Sie wussten, dass Sie ein solcher werden würden?
Einen konkreten Moment kann ich nicht benennen. Ich habe als Jugendlicher Leichtathletik betrieben und war da besonders auf den Sprintdistanzen erfolgreich. Dieses direkte Messen mit der Konkurrenz, der Kampf um Millimeter, hat mich damals schon fasziniert. Und das hat sich im Radsport dann fortgesetzt. An der Reaktion meiner Teamkollegen und der Trainer habe ich dann ablesen können, dass ich wohl ein gewisses Talent dafür hatte.
Sind Sie generell ein Geschwindigkeits-Junkie?
Nein, gar nicht. Ich fahre nicht extrem schnell Auto oder so etwas. Das ist sicherlich auch darin begründet, dass ich mich auf dem Rad komplett ausleben kann. Diese Anspannung, die ich in meinem Sport in Sprints oder bei Abfahrten spüre, muss ich mir nicht auch noch anderswo holen.
Wurmt es Sie, dass Sie nie die Gesamtwertung einer großen Rundfahrt gewinnen werden?
Nein, denn die Besonderheit des Radsports ist es ja gerade, dass so viele verschiedene Fahrertypen gewürdigt werden können, weil es verschiedene Wertungen gibt, in denen die Spezialisten gewinnen können. Ich bin eben kein Allrounder, der große Rundfahrten gewinnt. Aber ich kann bei großen Rundfahrten Etappen gewinnen.
Es gibt ja Menschen, die sagen, dass die Spezialwertungen die Leistung der Allrounder abwerten und die Gesamtsieger unter der Popularität der Etappen- und Wertungsgewinner leiden.
Diese Menschen haben dann wahrscheinlich die Komplexität des Radsports nicht verstanden. Unser Sport ist nicht so einfach wie Fußball. Aber dass verschiedene Talente gewürdigt werden, macht ihn aus. Und ich denke, dass jeder den Teil der Popularität bekommt, den er verdient.
Ihr Sprinttalent hat Ihnen bei der diesjährigen Tour de France zu besonderer Aufmerksamkeit verholfen. Waren Ihre fünf Etappensiege ein Quantensprung für Ihre Bekanntheit?
Auf jeden Fall. Die Aufmerksamkeit, die ich in Deutschland hatte, war außergewöhnlich. Der Tour-Start in Düsseldorf hat mit Sicherheit viel dazu beigetragen. Für mich war es dadurch das beste Jahr der Karriere.
Das mit dem Wechsel zum Team Katjuscha-Alpecin belohnt wird, den Sie am vergangenen Mittwoch bekannt gegeben haben. Welche Rolle haben dabei die fünf Tour-Erfolge gespielt?
Sie haben sicherlich meinem Marktwert nicht geschadet. Das Interesse war aber schon vor der Tour da. Und ich möchte hier einmal klarstellen, dass der Wechsel in erster Linie sportliche Gründe hatte. Finanziell bewege ich mich weiter in der Region, in der ich aktuell bei Quick Step auch bin. Aber ich sehe bei Katjuscha sportlich die bessere Perspektive für mich und bin überzeugt davon, dass der Wechsel für frischen Wind sorgen wird.
Der ist auch im deutschen Radsport zu spüren. Nach Jahren, in denen das Thema Doping alles überlagerte, scheint sich wieder eine Begeisterung zu entwickeln. Spüren Sie eine besondere Verantwortung, die auf Spitzenfahrern wie Ihnen lastet, dieses zarte Pflänzchen nicht durch neue Skandale zu zertreten?
Auf jeden Fall, wir haben diese Verantwortung und versuchen, ihr auch gerecht zu werden. Das Wichtigste, was wir einbringen können, sind aber sportliche Erfolge, denn die haben die Signalwirkung, die es braucht, damit sich der Radsport in Deutschland wieder nach vorn entwickelt. Es ist noch längst nicht alles Friede, Freude, Eierkuchen. Aber die Entwicklung ist positiv, im nächsten Jahr wird die Deutschland-Tour neu aufgelegt, und ich hoffe, dass weitere Rennen, die im Zuge der Dopingskandale gestrichen wurden, folgen werden. Da müssen wir dranbleiben.
Dafür braucht es aber Geduld. Wie schwer fällt es einem, der von der Geschwindigkeit lebt, die aufzubringen?
Gar nicht schwer. Wenn ich darauf zurückschaue, wo wir vor fünf Jahren standen, haben wir viel geschafft, auf das wir auch ein bisschen stolz sein dürfen. Wir sollten nicht zu viel auf einmal wollen. Gute Dinge brauchen Zeit, und diese Zeit sollten wir unserem Sport geben.