Hamburg. Am Dienstag läuft „Die Norm – Ist dabei sein wirklich alles?“ im Abaton-Kino. Regisseur Guido Weihermüller über seinen Dokumentarfilm.
Der Hamburger Regisseur Guido Weihermüller (51) geht in den nächsten neun Tagen gleich zweimal mit Sportdokumentationen im Abaton-Kino an der Uni auf die Leinwand. An diesem Dienstagabend startet der Olympiafilm „Die Norm – Ist dabei sein wirklich alles?“, am 30. November folgt in einer Sondervorführung das ausgekoppelte Beachvolleyball-Epos „Ludwig/Walkenhorst – Der Weg zu Gold“.
Weihermüller, seine Frau Silvia (50) als Produzentin und sein Team hatten vom November 2014 bis zu den Sommerspielen im August 2016 in Rio neun Hamburger Spitzensportler im Training, bei Wettkämpfen und privat begleitet: die Schwimmer Maxine Wolters (17), Jacob Heidtmann (22) und Steffen Deibler (29), die Beachvolleyballer Markus Böckermann (30), Lars Flüggen (26), Laura Ludwig (30) und Kira Walkenhorst (26), den Weitspringer Sebastian Bayer (30) und den Ruderer Tim Ole Naske (20). An 102 Drehtagen entstanden rund 1000 Stunden Filmmaterial. Wolters, Bayer und Naske schafften die Olympianorm nicht, die Geschichten von Wolters und Deibler fielen dem Erzählfluss zum Opfer.
Herr Weihermüller, nach Ihrem viel gelobten Erstlingswerk „Wechselzeiten“, in dem Sie vier Frauen bei ihrer Vorbereitung auf den Hamburger Triathlon 2013 porträtieren, sind nun Spitzensportler in den Fokus Ihrer Kamera geraten. War das der Blick auf den Sport, der Ihnen noch fehlte?
Guido Weihermüller: Die Idee für den Film ist während der Hamburger Olympiabewerbung 2014 entstanden. Wir haben uns gefragt, wer sind eigentlich diese Athleten, die mitten unter uns in dieser Stadt wohnen, die neben uns an der Supermarktkasse stehen, die im Gegensatz zu den Fußballprofis wahrscheinlich aber niemand kennt? Was sind das für Charaktere, wie trainieren, wie leben sie? Was macht aus ihrer Sicht diese offensichtliche Faszination aus, sich für dieses Ziel Olympia tagein, tagaus zu quälen, ohne die Gewissheit zu haben, es am Ende auch wirklich zu schaffen? Die Norm ist gnadenlos. Das Scheitern gehört deshalb zu diesem Film.
Was sind das für Typen, die sich diesem Ausleseprozess unterwerfen?
Was mich beeindruckt hat, ist die unfassbare Fokussierung auf dieses eine große Ziel. Sie geben alles dafür, und ich habe erfahren, was dieses „alles“ bedeutet: die innere Bereitschaft, das Projekt mit allem Einsatz durchzuziehen, die Kraft, nach Rückschlägen aufzustehen, der Verzicht auf viele Annehmlich- und Bequemlichkeiten des heutigen Lebens. Es ist ein Verzicht auf vielen Ebenen, nicht nur für die Sportler, auch für ihr Umfeld, ihre Lebenspartner, für ihre Familien. Der Spitzensport reißt die Athleten oft aus einem „normalen“ sozialen Kontext. Das ist eine brutale Herausforderung, die von der Gesellschaft unzureichend wahrgenommen und nur im extremen Erfolgsfall auch belohnt wird.
In Ihren Filmen bauen Sie eine ungewöhnliche Nähe zu den Sportlern auf. Von Sebastian Bayer ist der Satz überliefert, er wolle keine Homestory. Im Film ist er dann derjenige, der wohl die tiefsten Einblicke in sein Privat- und Gefühlsleben zulässt, als er 2016 mitten in der Olympiavorbereitung überraschend Vater wird. Wie ist es Ihnen gelungen, diese Intimität herzustellen?
Im Laufe der Dreharbeiten hat sich gegenseitiges Vertrauen entwickelt. Die Entstehung des Films konnte ja parallel in 47 Episoden im Internet verfolgt werden. Dort konnte jeder zeitnah sehen, was wir vorhaben, wie die sportliche Entwicklung der Protagonisten voranschreitet. Das Feedback auf die Episoden hat auch den Sportlern gezeigt, dass wir sie nicht zur Schau stellen wollten, sondern ein aufrichtiges und ehrliches Interesse an ihnen haben. Wir wollten streng dokumentarisch arbeiten, beobachten, zuhören und entdecken. Trotzdem haben wir keine Überwachungsvideos gedreht, vielmehr versucht, die Realität in eine künstlerische Form zu bringen, die im Kino Emotionen schafft. Alles im Film ist authentisch, nur zwei Szenen haben wir in Absprache mit den Athleten wiederholt, weil die Zusammenhänge für den Zuschauer sonst nicht verständlich gewesen wären.
Hatten die Sportler ein Mitspracherecht bei der Auswahl der Filmszenen?
Nein. Eine Ausnahme waren die Szenen mit Sebastian Bayer und seinem Baby. Die haben wir uns von ihm und seiner Freundin freigeben lassen.
Sie haben gesagt, in diesen zwei Jahren der Dreharbeiten seien auch Freundschaften entstanden. Wie haben Sie es geschafft, die professionelle Sicht beizubehalten?
Die Schere im Kopf gab es während der Dreharbeiten nicht. Ich wusste aber natürlich immer, dass ich spätestens im Schnitt des Films Entscheidungen treffen muss. Es gibt so viele tolle Szenen, die es nicht in die Endfassung geschafft haben. Besonders schwer fiel es mir, zwei Athleten, die wir begleitet haben, komplett aus dem Film zu schneiden.
Wie haben die beiden reagiert?
Steffen Deibler und Maxine Wolters waren mir gegenüber sehr gefasst, aber ich glaube schon, dass sie sehr enttäuscht waren. Ich freue mich aber jetzt umso mehr, dass beiden der Film dennoch gefällt. Steffen war später sogar der Meinung, dass die Geschichte über seinen Schwimmkollegen Jacob Heidtmann mehr Facetten bot als seine, weil der Aspekt Familie bei Heidtmann eine zentrale Rolle spielte.
Sie verzichten im Gegensatz zu den meisten Dokumentarfilmern auf eine Kommentierung der Ereignisse. Warum?
Weil jeder Zuschauer sich sein eigenes Bild machen soll, was ihn den Film dann intensiver erleben lässt. Ich wollte daher keine Interpretationslinie vorgeben. Nehmen wir Jacob Heidtmann. Er ist das jüngste von sechs Kindern. Die fürsorgliche Mutter, die bei ihm in seinem Zuhause in Dulsberg einmal die Woche aufräumt, wird von einigen bewundert, von anderen kritisiert. Jacob nehmen manche als unselbstständig wahr, der unter der Fuchtel des konservativen Elternhauses steht, andere erkennen in ihm einen Rebellen, der gerade mit seinem Handeln mitten in einem Emanzipationsprozess steckt. Er sagt Dinge, die seinen Eltern nicht gefallen dürften, etwa dass es ihm letztlich egal ist, für welche Nation er startet. Aber alle stehen hinter ihm, feuern ihn an, fiebern mit. Das sind sehr authentische Szenen, die viele junge Menschen und auch Eltern im Kino nachvollziehen können.
Sie haben in den zwei Jahren Drehzeit Einblicke in den deutschen Spitzensport gewinnen können. Wie ist es um ihn bestellt?
„Die Norm“ ist kein sport-, eher ein gesellschaftspolitischer Film. Aufgefallen ist mir aber die große Bedeutung der Heimtrainer. Sie haben ihr Ohr und ihr Herz an den Athleten, sie sind Vertrauenspersonen, besitzen dieses feine Gespür, was wann in welcher Situation vonnöten ist. Diese Arbeit wird nicht in dem Maße wertgeschätzt, wie sie es verdient hätte – auch finanziell. Mein Eindruck ist, dass es an der Schnittstelle Athlet/Trainer zur Sportpolitik erhebliche Kommunikationsprobleme gibt.
Sie haben unterschiedliche Trainertypen kennengelernt. Gibt es ein Erfolgsrezept?
Das eine sicherlich nicht. Lange oder kurze Leine, beides haben wir erlebt. Wichtig erscheint mir, dass ein gewisses Maß an Spaß dabei sein muss. Im Training darf auch mal gelacht werden. Und es ist keineswegs leistungshemmend, wenn man selbstbewusste, eigenständige Athleten schafft.
„Die Norm“ ist ein Low-Budget-Film, mit viel persönlichem Risiko. Hätte sich der Aufwand auch gerechnet, wenn die Erfolgsstory der Beachvolleyballerinnen Ludwig/Walkenhorst nicht ausgekoppelt und vorab in der „Sportschau“ gezeigt worden wäre?
„Die Norm“ war ein transmediales Projekt, die Entstehung des Films konnte online verfolgt werden. Dadurch war es uns möglich, Sponsoren zu finden, weil das Thema zwei Jahre lang auf verschiedenen Plattformen präsent war. Für den Film in der ARD mussten wir für die Szenen aus dem olympischen Turnier in Rio hohe Lizenzgebühren an das IOC zahlen. Schade ist nur, dass wir unsere eigenen, sehr persönlichen Aufnahmen, die wir an der Copacabana gemacht haben, und da waren wunderschöne Szenen dabei, nie werden zeigen können.