Hamburg. Wenn der HSV auch beim Drittligisten im DFB-Pokal verliert, dann droht der Krisen-Club zu implodieren. Halilovic nicht einmal im Kader
Stefan Böger wusste ganz genau, dass die Frage kommen würde. „Nein, nein“, beschwichtigt der Sportdirektor vom Halleschen FC am Telefon. Es ist Punkt 10.30 Uhr, Böger sitzt in seinem Büro im Erdgas Sportpark und ist am Vortag des DFB-Pokalspiels zwischen dem seit sieben Spielen unbesiegten Drittligaclub HFC und dem Abgrund entgegentaumelnden Bundesliga-Dino HSV (Di, 20.45 Uhr/Sky) vor allem als Euphoriebremse gefragt. „Wir sind uns der Rolle als Underdog bewusst“, sagt Böger. „Der HSV ist Favorit, wir sind nur Außenseiter.“
Bögers Bescheidenheit ist aller Ehren wert, doch wirklich glaubhaft ist sie nicht. „Natürlich haben auch wir zur Kenntnis genommen, dass der HSV schwere Zeiten durchlebt“, sagt der 50-Jährige, der zwei Jahre lang (1997 bis 1999) beim HSV gespielt hat und noch immer eine Wohnung in Eimsbüttel besitzt. Als sich Böger aber am Freitagabend nach dem 0:3-Debakel des HSV gegen Frankfurt aus dem Volkspark auf den Rückweg durch die Nacht nach Sachsen-Anhalt machte, stellte er sich vor allem zwei Fragen: Ist der HSV so weit unten, dass es nun ausgerechnet in Halle wieder aufwärtsgehen muss? Oder – und darauf hofft der HFC-Manager natürlich – gibt es etwa noch immer eine weitere Eskalationsstufe?
Es sind die gleichen Fragen, die man sich vor dem Abflug nach Halle an der Saale auch im fernen Hamburg am Montagnachmittag stellt. Bundesliga gegen Dritte Liga – da sollte die Ausgangslage normalerweise klar sein. Doch normal ist beim HSV im Herbst 2016 schon lange nichts mehr: Tabellenletzter, lediglich zwei Punkte und nur zwei Tore nach sieben Spielen. Und so stellt sich ganz automatisch die Folgefrage, was denn eigentlich passieren würde, wenn der unangefochtene Rekordhalter im Fettnäpfchenweitsprung auch am Dienstagabend zielgenau in das nächste Fettnäpfchen hüpfen würde?
„Es geht sportlich und in der Führung nicht mehr so weiter“, hatte Aufsichtsratchef Karl Gernandt gegenüber der „Bild“ gesagt, woraus die Boulevard-Zeitung in ihrer Montagsausgabe die baldige Trennung von Clubchef Dietmar Beiersdorfer schlussfolgerte: „Didi droht das Aus!“ Auf Nachfrage des Abendblatts, ob sein interpretationswürdiger Satz genau so gemeint war, teilte Gernandt lediglich per SMS mit, dass er seine Zeit nun mit internen Gesprächen nutzen und vorerst keine weiteren Statements geben werde. „Der Fokus muss jetzt richtig sein und sitzen“, so Gernandt, der damit nichts und gleichzeitig alles gesagt hat.
Einen Tag vor dem DFB-Pokalspiel im wilden Osten ist der krisengeschüttelte Bundesliga-Dino in eine Krise hineingeschlittert, die selbst für den chronischen Chaosclub HSV neue Dimensionen erreicht. Denn nachdem sämtliches Personal von Beiersdorfer und Gernandt in den vergangenen zweieinhalb Jahren mehrfach und sehr kostspielig ausgetauscht wurde, bleiben nur noch zwei Personalien übrig, die man noch austauschen könnte: Beiersdorfer und Gernandt, dessen unabgestimmtes „Wut-Interview“ am Wochenende auf der Club-Homepage für einigen internen Wirbel gesorgt hat. Gewinnt der HSV nun also auch beim HFC nicht, droht der einst so stolze Traditionsclub regelrecht zu implodieren.
So werden hinter den Kulissen längst Notfallszenarien durchgegangen, Allianzen gebildet und Übergangslösungen diskutiert. Der von der „Bild“ als neuer Sportchef ins Gespräch gebrachte Nico-Jan Hoogma wurde nach Abendblatt-Informationen noch nicht kontaktiert, dafür ist eine vorzeitige Trennung von Clubchef Beiersdorfer tatsächlich längst kein Tabuthema mehr. Doch auch Gernandt, der in der Theorie der Einzige ist, der den Vorstandschef austauschen könnte, muss ganz praktisch um seinen Posten als Kontrollchef fürchten. Denn spätestens in einem Jahr soll der gesamte AG-Aufsichtsrat nach Abendblatt-Informationen neu aufgestellt werden. Doch wer beurlaubt dann den Beurlauber, wenn dann auch noch der Chef-Beurlauber beurlaubt ist?
Hamburger Wenn-dann-Logik, die einen für den Moment sogar vergessen lässt, dass an diesem Dienstagabend auch noch Fußball gespielt werden soll.
Zumindest finanziell ist eine Hamburger Niederlage in Halle längst einkalkuliert: Aus den Erfahrungen der Vorjahre hat der HSV in seiner Etatplanung für die laufende Saison, die der Club im März der DFL im Rahmen des Lizenzierungsverfahren einreichen musste und die dem Abendblatt vorliegt, vorsorglich nicht das Erreichen des Achtelfinals eingeplant. Als Gesamteinnahmen im DFB-Pokal kalkulierten die Hamburger mit 1,217 Millionen Euro. Zur Erinnerung: Von den vergangenen vier Spielzeiten überstand der HSV nur ein einziges Mal die zweite Runde, im vergangenen Jahr war in der ersten Runde beim Viertligaclub Carl Zeiss Jena Schluss.
Doch Jena ist gestern, Halle ist heute. Und heute muss sich vor allem Neu-Trainer Markus Gisdol darüber den Kopf zerbrechen, wie er seine nach der 0:3-Pleite am Freitag gegen Frankfurt am Boden liegenden Spieler bis zum Pokalabend wieder wachrüttelt. Sein erstes Opfer: Alen Halilovic, den er am Freitag nach nur 45 Minuten auswechselte und der nun nicht einmal mehr einen Platz im Kader ergattern konnte.
„Der HSV hat noch immer eine starke Mannschaft, ganz egal, welche Spieler da am Ende auflaufen werden“, sagt Stefan Böger, der daran erinnert, dass der Hallesche FC noch nie in der Vereinsgeschichte das DFB-Pokal-Achtelfinale erreichen konnte. „Ein Sieg wäre historisch“, sagt er. Und eigentlich kann nur ein Gegner für das geschichtsträchtige Wunder sorgen: Nur. Der. HSV.
HSV: Adler – Diekmeier, Ekdal, Cléber, Santos – Holtby, Jung – Müller, Kostic – Wood, Lasogga.