Paris. Der DFB-Kapitän verschuldete den Elfmeter zum 0:1 und leitete so die 0:2-Niederlage gegen Frankreich im EM-Halbfinale ein.
Verzweifelt gingen die Blicke hinter dem Ball her. Hinter diesem Ball, der so aufreizend langsam Richtung Tor kullerte. Irgendwas musste doch zu machen sein, aber das war es nicht. Der Ball, von Stürmer Antoine Griezmann geschossen, nahm seinen Weg und das deutsche Unglück seinen Lauf. Es war der zweite Treffer des französischen Nationalspielers in dieser Partie. Er machte aus einer Ahnung Gewissheit: Der deutsche Traum, nach dem Weltmeister-Titel von 2014 auch den Thron Europas besteigen zu können bei dieser EM in Frankreich, platzte in diesem Augenblick in Marseille jäh.
Joachim Löw hatte sich für diese Partie erneut etwas Neues ausdenken müssen. Die Sachlage im defensiven Mittelfeld war nach der Verletzung von Sami Khedira und der Knie-Blessur von Bastian Schweinsteiger in den Tagen vor der Partie höchst angespannt. An der Seite des Kapitäns tauchte überraschend Emre Can auf. Der Profi des FC Liverpool gab sein Debüt. In Frankreich. Gegen Frankreich. Eine echte Aufgabe.
Frankreich vs. Deutschland: Die besten Bilder
Als die „Marseillaise“ aus dem Stadion gewichen und die Gänsehaut von den Menschen verschwunden war, starteten die Gastgeber wie erwartet. Wuchtig. Nach nur 20 Sekunden landete der Ball das erste Mal bei Torwart Manuel Neuer, Jerome Boateng war so sehr unter Druck geraten, dass sein Rückspiel bestenfalls als suboptimal zu bezeichnen war. Neuer löste die Sache, aber die Deutschen – das war zu merken – waren beeindruckt. Von der Kulisse, von den Fans in diesem bebenden weißen Gewölbe, das da mitten in der Stadt an der Erdoberfläche steht und sich an die Wohnbebauung schmiegt.
Schon nach sechs Minuten kombinierten die Blauen die Weißen erschreckend leicht auseinander, Antoine Griezmann aber scheiterte am gestreckten Neuer. Doch der Weltmeister wachte schnell danach auf. Seine Außenverteidiger Jonas Hector und Joshua Kimmich schickte Löw in eigenem Ballbesitz so weit nach vorn, dass sie zeitweise auf einer Linie mit dem einzigen Stürmer Thomas Müller agierten. Cans flache Hereingabe auf Müller schoss dieser aber am Tor vorbei (13.). Eine Minute später zog Can von der Strafraumgrenze ab, aber Hugo Lloris lenkte den Ball um den Pfosten.
Vom lärmenden Inferno blieb in der Folgezeit wenig übrig. Mit langen Passfolgen bewegten die Deutschen den Gegner über den Platz, suchten Lücken. Aber die blaue Wand erwies sich als höchst widerspenstig. Lloris wischte einen Schuss von Schweinsteiger über die Latte (26.), Julian Draxler und Müller stocherten kurz später nach einer Hereingabe ohne Erfolg nach dem Ball.
Die Menschen auf den Tribünen raunten über die Missverständnisse ihrer Heim-Mannschaft. Und selbst Vielversprechendes in der Offensive vermochten die Deutschen zu zerstören. Olivier bot sich eine Kontergelegenheit, er strebte mit Ball auf das Tor zu, als ihn Benedikt mit einer epischen Grätsche stoppte. Ein Moment voller Energie. Ein Zeichen. Eines, das schnell erlosch.
Eine Ecke der Franzosen flog in den Strafraum und das deutsche Unglück nahm seinen Lauf. Den Kopfball von Patrice Evra stoppte Schweinsteiger mit dem Arm. Der italienische Schiedsrichter Nicola Rizzoli entschied auf Elfmeter – vertretbar. Griezmann lief an, schoss nach links und löste die nationale Verkrampfung (45.). Es war der fünfte Treffer des Toptorjägers bei dieser EM - und mit Sicherheit der lauteste.
Deutschland in Rückstand, das hatte es bei diesem Turnier noch nicht gegeben. Und der Schreck saß tief, das war nach der Pause noch zu spüren. Frankreich war der Vorentscheidung näher. Einen Schuss von Giroud blockte Jerome Boateng im letzten Moment ab, einen Versuch von Giroud klärte der Abwehrchef zur Ecke (47.). Die Selbstverständlichkeit, mit der die deutsche Mannschaft große Teile der ersten Halbzeit dominiert hatte, schien fort. Und Besserung schien erst mal nicht in Sicht, weil Löw zu weiteren Veränderungen in seinem von Verletzungen geplagten Kader gezwungen war. Boateng humpelte nach einer Stunde vom Feld. Auch er stand in der entscheidenden Phase nicht mehr zur Verfügung. Statt Hummels und Boateng verteidigten nun Shkodran Mustafi und Höwedes.
Doch nach zehn Minuten brachte Mustafi ein Fehlpass Kimmichs in die missliche Lage, die Flanke von Paul Pogba nicht unterbinden zu können. Neuer hantierte am Ball herum, er sprang vor die Füße von Griezmann – und von dort kullerte er ins Tor. Kimmichs Pfostenschuss (74.) und Draxlers Freistoßchance änderten nichts mehr. Der Weltmeister war geschlagen.
Frankreich: Lloris – Sagna , Koscielny, Umtiti, Evra – Pogba , Matuidi – Sissoko, Griezmann (90.+2 Cabaye), Payet (71. Kanté) – Giroud (78. Gignac). Deutschland: Neuer – Kimmich, Boateng (61. Mustafi), Höwedes, Hector – Schweinsteiger (79. Sané) - Can (67. Götze), T. Kroos – Özil, Draxler – Müller.
Tor: 1:0 Griezmann (45. +2, Handelfmeter), 2:0 Griezmann (72.). Schiedsrichter: Rizzoli (Italien). Zuschauer: 69.000. Gelb: Evra, Kanté – Schweinsteiger, Can, Özil, Draxler.