Évian-les-Bains. Wie wurde aus einem introvertierten Berliner Jungen der neue Anführer der deutschen Fußballnationalmannschaft? Eine Spurensuche.
Jérôme Boateng hatte einen Zauber dabei. Er trug ihn versteckt unter seiner weißen Trainingsjacke, als er am Montag in die pechschwarze DFB-Propellermaschine Richtung Paris stieg, wo er an diesem Dienstag mit der deutschen Nationalelf auf Nordirland trifft (18 Uhr/ARD). Genau genommen hätte man Boateng noch das T-Shirt über den Kopf ziehen und ihn einmal drehen müssen, um den Zauber zu Gesicht zu bekommen: Auf seinem Rücken trägt der 27-Jährige die Hand der Fatima als Tattoo.
Die Hand der Fatima ist ein Symbol – fünf Finger und ein Auge in der Mitte. Sie ist ein magisches Abwehrmittel gegen böse Geister, und man darf vor diesem letzten EM-Gruppenspiel gegen die wackeren Nordiren getrost behaupten, dass ohne das magische Abwehrmittel Jérôme Boateng die bösen Geister längst im deutschen Lager angekommen wären. Ein Turnier ist wie ein offenes Buch, in das Heldengeschichten geschrieben werden wollen. Bei der WM 2014 waren es Erzählungen über Bastian Schweinsteiger und Manuel Neuer. Bei der EM 2016 ist bisher Boateng der deutsche Held: Sein Rettungsstunt ohne Rücksicht auf Verluste gegen die Ukraine hat dem Team von Bundestrainer Joachim Löw den ersten Sieg gesichert, seine Offensivkritik ohne Rücksicht auf Verluste nach dem 0:0 gegen Polen eine Qualitätsdebatte angestoßen.
Boateng ist der Chef. Er hat die dritthöchste Zweikampfquote aller EM-Spieler und die drittmeisten Ballkontakte aller Verteidiger. „Innerhalb der Mannschaft ist er respektiert und angesehen. Jeder weiß, dass er ein Weltklasseverteidiger ist“, sagt Löw über ihn. Das Abwehr-Tattoo auf dem Rücken beschützt Boateng, und Boateng die deutsche Mannschaft im Rücken. Aber er ist auch ein Wortführer geworden, und das ist das Erstaunlichste an der Heldenstory. Denn sie begann völlig anders.
Ein unfertiges Abwehrjuwel, aber kein Chef
„Jérôme hat bei uns mittrainiert, aber ansonsten hat man ihn nicht wahrgenommen“, sagt Falko Götz, wenn man den 54-Jährigen heute fragt, ob schon der junge Boateng diese Bossmentalität in sich getragen habe. Unter dem Trainer Götz debütierte Boateng im Januar 2007 mit 19 in der Bundesliga für Hertha BSC. Ein Abwehrjuwel, aber ein unfertiges, das vor allem eines nicht war: ein Chef. „Er war sehr ruhig. Es gab damals andere junge Spieler bei uns, die schon ein ganz anderes Selbstbewusstsein hatten“, sagt Götz und meint Boatengs eineinhalb Jahre älteren Halbbruder Kevin Boateng. Zwei völlig konträre Mentalitäten. In Berlin sagen sie, Kevin sei ein geborener Anführer gewesen. Jérôme musste erst einer werden. Heute trainiert Götz den Zweitligaabsteiger FSV Frankfurt, aber die Auftritte seines ehemaligen Spielers in Frankreich verfolgt er gespannt. „Jérôme hat auch mich überrascht. Er hat eine sensationelle Entwicklung gemacht, die ihm damals viele aufgrund seiner Introvertiertheit nicht zugetraut haben“, sagt Götz.
Wenn man so will, ist der Weg, den Boateng hinter sich gebracht hat – vom schüchternen Jungen aus Berlin-Charlottenburg zum neuen Chef im Nationalteam –, einer in vier Etappen. In Berlin, bei Hertha und Götz, begann er und führte nach Hamburg und zu Bruno Labbadia. Nach seinem Wechsel zum HSV im Sommer 2007 war Labbadia sein dritter Trainer bei den Hanseaten. In Berlin hatte Boateng als Außenverteidiger zehn Bundesligaspiele gemacht, Labbadia rückte ihn in die Mitte.
In Hamburg lernte Boateng an der Seite von Joris Mathijsen
„Jérôme hatte die perfekten Voraussetzungen, um vom talentierten Abwehrallrounder zum sehr guten Innenverteidiger zu werden: eine unglaubliche Schnelligkeit, starkes Kopfballspiel, ein gutes Passspiel“, sagt Labbadia dem Abendblatt. Er ist nun zum zweiten Mal HSV-Trainer. Man erreicht ihn in Spanien, wo er mit seiner Familie Urlaub macht, aber kein EM-Spiel verpasst. Auch in Hamburg sei Boateng ein introvertierter Typ gewesen. Labbadia sagt „entspannt“. Aber dann sagt der 50-Jährige auch Sätze, die Boatengs Entwicklung zusammenfassen: „Er ist von einem Talent zu einem guten, dann zu einem sehr guten, zu einem herausragenden, schließlich zu einem Weltklasse-Innenverteidiger gewachsen. Er ist den Weg Schritt für Schritt gegangen. Jede Station hat ihn weitergebracht.“
Lethargische DFB-Elf im Glück gegen Polen
In Hamburg habe er an der Seite des erfahrenen Joris Mathijsen gelernt, sagt Labbadia. Bei Manchester City, wohin Boateng nach der WM 2010 wechselte, aber viel verletzt war und wenig spielte, reifte er persönlich. Es war die dritte Etappe auf dem Weg zur Weltklasse. Sie mündete in die vierte und entscheidende: den Wechsel zum FC Bayern 2012. Unter Jupp Heynckes wurde Boateng zur verlässlichen Größe im Abwehrzentrum und gewann das Triple aus Liga, Pokal und Champions League. Neigte sein Spiel davor zu Kalamitäten, phlegmatischen Aussetzern und „hirnlosen“ Platzverweisen (Heynckes), reifte er nun zum herausragenden Verteidiger, dem es gelang, seine außerordentliche Physis gewinnbringend einzuset-zen. Wie? Selbstgespräche halfen.
Pep Guardiola mit dem größten Einfluss
Genau zu dieser Zeit begann Boateng, mit Hans-Dieter Hermann, dem DFB-Teampsychologen, zu arbeiten. „Um wach zu bleiben, sollte ich einfach mit mir selbst sprechen – rechts, links, immer wieder umdrehen, räumlich denken“, hat Boateng dem „Stern“ erzählt. Dann ging Heynckes, und er bekam in München einen Trainer, der den größten Einfluss hatte: Pep Guardiola. Er sei der Erste gewesen, der ihm taktische Dinge beigebracht habe, die er nicht schon kannte, hat Boateng gesagt. Guardiola wies ihn in die Kunst der Abwehrführung ein. Die WM in Brasilien kam, ein Turnier, in das Jérôme Boateng nicht als gesetzter Innenverteidiger startete, aber als solcher daraus hervorging, und Löw sagt heute: „Im Finale war seine Leistung mitentscheidend, dass wir den Titel gewonnen haben.“
Vor der EM in Frankreich hat der Bundestrainer das Gespräch mit Boateng gesucht: „Ich habe ihn aufgefordert, mehr zu sprechen, sich zu exponieren“, sagt der 56-Jährige. Für Falko Götz und Bruno Labbadia steckt darin der finale Schritt vom herausragenden zum Weltklasseverteidiger. Das hebe ihn ab, sagen beide.
Boateng ist früher immer der kleine Bruder gewesen. Jetzt ist er der große Bruder Boateng, der hinten im Nationalteam alles wegräumt und danach anspricht, wenn vorn zu vieles liegengelassen wurde. „Ich bin persönlich gereift“, sagt Boateng, was herrlich leise klingt. Ein Lautsprecher der alten Schule wird er nicht mehr. Aber das hat sich auch überholt. In die Hand der Fatima auf seinem Rücken hat er sich eine Waage tätowieren lassen: ein ausgeglichener Typ. Auf seinem Körper trägt Jérôme Boateng den zurückgelegten Weg: Champions-League-Logo auf dem Arm, WM-Pokal auf der rechten Wade. Die linke habe er frei gelassen, hat sein Tätowierer erzählt: für den EM-Pokal.