Die Spiele schenken dem Land eine sommerliche Auszeit – und zeigen zugleich, dass nicht nur der Sport Völker und Länder verbindet.

Endlich rollt der Ball. Und wer die fröhlichen Bilder der Eröffnungsfeier wie die ernsten mit schwer bewaffneten Sicherheitskräften auf den Fanmeilen gesehen hat, weiß um die Wirkmacht und Bedeutung dieses Sports. Fußball ist längst mehr als das „einfache Spiel“, wie es der englische Fußballer Gary Lineker einst satirisch definierte: „22 Männer jagen 90 Minuten lang einem Ball nach, und am Ende gewinnen die Deutschen.“

Was als „Lümmelei“, als „englische Krankheit“, im 19. Jahrhundert auf britischen Bolzplätzen begann, hat längst die ganze Welt infiziert. Fußball ist allumfassend, Fußball ist Politik und Sport, Wirtschaft und Kunst. Fußball ist turbokapitalistisch geworden und doch herrlich anarchisch geblieben, weil Geld noch immer keine Tore schießt. Es ist das Spiel kleiner Jungs, Tresenteams und ganzer Länder: Fußball vermag Nationen in einen kollektiven Erregungstaumel zu stürzen; Fußball zerstreut, Fußball erfreut.

Gerade Letzteres kann Deutschland derzeit gut gebrauchen. Wir alle sollten uns erholen, runterkommen, abregen. Lange hatte man Debatten in diesem Land vermisst. Nach gut einem Jahr würde man gern diese alte Klage wieder führen. Die Flüchtlingskrise offenbart einen Riss durch die Mitte des Landes, und der Graben wird täglich breiter. Kritiker der Merkel-Politik gelten schnell als „Rassisten“ oder „Rechtsradikale,“ die Befürworter offener Grenzen als „nicht ganz dicht“. Erst streiten wir gar nicht – und dann plötzlich wie die Kessel­flicker. Da tut ein bisschen Rudel­gucken mit den Nachbarn, den Kollegen oder der Familie ganz gut. Ein Kollektiverlebnis für eine gespaltene Nation.

Und eines, das auf spielerische Weise nationales Fühlen ermöglicht und zugleich nationalistisches Denken überwindet. Die Nationalelf ist eine Wertegemeinschaft, die sich aus verschiedenen Weltregionen unter dem Bundesadler vereinigt hat. Die Mannschaft ist kulturell gemischt, bringt Christen und Moslems zusammen, und fühlt sich gemeinsam dem Erfolg verpflichtet. Bei der Nationalelf ist es unumstritten: Zuwanderung und Integration haben die Nationalelf stärker gemacht. Was wäre Löw, was wären wir ohne Tah, Boateng, Mustafi, Özil, Podolski, Can, Khedira, Sané, Gomez? Sicher nicht Favorit. Selbst 88 Prozent der AfD-Wähler haben nichts gegen Boateng als Nachbarn.

Zugleich wirkt die bunte Elf integrativ auf alle Zuwanderer. Es ist nicht lange her, da entschieden sich Fußballtalente hierzulande für ihr Herkunftsland und nahmen viele Fans mit in die emotionale Fremde. Heute tragen ihre Helden den Adler. Man sollte den Fußball politisch nicht überfordern. Man darf seine segensreiche Wirkung aber auch nicht unterschätzen.

EM-Berichte auf den Seiten 37, 38, 39 und im Magazin

Das wissen auch die Islamisten, die nichts mehr hassen als die Freiheit, die Lebensfreude, das Spiel. Natürlich steht das Turnier auch unter Vorzeichen, die Angst machen. Teufelskrieger haben im vergangenen Jahr gleich mehrfach Terror und Krieg nach Frankreich getragen. Sie könnten es wieder versuchen. Nichts ist so verwundbar wie eine offene Gesellschaft. Aber Zurückweichen ist keine Alternative. Sie lieben den Tod, wir feiern das Leben. Oder um mit Kästner zu sprechen: „Seien wir ehrlich/Leben ist immer lebensgefährlich.“

Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch. Für Europa, diesen zerrissenen Kontinent, kommt die EM zur rechten Zeit. Die zaghaften, zaudernden, zweifelnden Franzosen können als Gastgeber der ganzen Welt beweisen, warum sie noch immer La Grande Nation sind. Die Russen dürfen zeigen, dass sie zu Europa gehören, die kleinen Nationen wie Island, Albanien oder Wales im Konzert der Großen mitmusizieren.

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    Sie bringen Farbe in den Kontinent, der stets mit seinen Unterschieden hadert, statt sie als Stärke zu begreifen. Und die Engländer, vom Spaltpilz Brexit befallen, könnten neuen Gefallen an der europäischen Idee entwickeln. Noch dürfen sie mitspielen. Am 23. Juni stimmen sie über den Verbleib in der EU ab. Bis dahin sollten sie ihre Spiele gewinnen – im Endspiel am 10. Juli ist dann, man erinnere an Lineker, gegen Deutschland ohnehin Schluss.

    Aber wir dürfen auch verlieren. Denn die „Jahre der Schmerzen“, die in England nun schon fünf Jahrzehnte währen (und 1996 im Three-Lions-Songs zur Hymne wurden), sind hierzulande vorbei. 18 Jahre mussten die Fans warten, bis Mario Götze sie 2014 erlöste. Als Weltmeister darf man eine Europameisterschaft tiefenentspannt angehen. Es dürfen auch mal die anderen gewinnen. Sie müssen es ja nicht.