Mailand. Reals Ronaldo schießt die Königlichen zum 11. Königsklassen-Titel, den Atlético genauso verdient gehabt hätte. Findet sogar Mittelfeldregent Toni Kroos
Toni Kroos war der Letzte. Es war bereits kurz nach 2 Uhr in der Nacht vom Sonnabend auf den Sonntag, als Madrids Mittelfeldmotor entspannt durch den Bauch des San Siro zum wartenden Mannschaftsbus schlenderte. Längst war Titelgarant Cristiano Ronaldo durch die Katakomben des Giuseppe-Meazza-Stadions defiliert, Marcello hatte ein Plausch mit den brasilianischen Journalisten gehalten, und auch der walisische Superstar Gareth Bale hatte mit breitem Grinsen und lustig zusammengestecktem Pferdeschwanz erklären dürfen, wie er und seine Mannschaftskollegen Lokalrivale Atlético mit 6:4 im Elfmeterschießen bezwingen konnten. „Man kennt mich ja“, diktierte schließlich Zuspätkommer Kroos mit gespielter Lässigkeit in die zahlreichen Aufnahmegeräte der Medienvertreter, „ich nehme so einen Triumph eher gefasst auf.“
Mit der routinierten Contenance war es aber nicht einmal sechs Stunden später vorbei. Dem eher bescheidenen Wetter zum Trotz ließen sich die Madridistas direkt nach der Rückkehr in Spaniens Hauptstadt im Morgengrauen frenetisch von mehreren Tausend Real-Fans feiern. Auf dem Dach eines Doppeldeckerbusses mit dem Schriftzug „CAMCEO11ES“ zelebrierten Kroos und Kollegen den Gewinn von „La Undécima“, den elften Titel in der Königsklasse, der im eigenen Selbstverständnis genauso verankert ist wie das königliche Real-Wappen. „Wir mussten siegen. Es war ja unsere letzte Chance, in dieser Saison noch einen Titel zu gewinnen“, sagte Kroos.
Dabei hatte zwei Jahre, nachdem Real im Champions-League-Finale 2014 erst in der Nachspielzeit gegen Atlético ausgleichen und in der Verlängerung siegen konnte, auch bei der Neuauflage nicht viel für einen Sieg des Außenseiters gefehlt. Waren es in Lissabon Sekunden, so waren es in Mailand Zentimeter, die zwischen Trauer und Triumph entschieden. Ausgerechnet Atléticos aufopferungsvoll kämpfender Routinier Juanfran, 31, war es, der den letzten Elfmeter der Los Colchoneros („Die Matratzenmacher“) an den Pfosten setzte. In der regulären Spielzeit hatten zuvor nur Reals Kapitän Sergio Ramos (15.) und der eingewechselte Yannick Carrasco (79.) getroffen. Zu allem Überfluss hatte Teamkollege Antoine Griezmann auch noch einen Strafstoß an die Unterlatte gezirkelt (47.). „Das 1:1 nach 120 Minuten ging schon in Ordnung“, analysierte Kroos nüchtern. „Und dann sehen die Regeln eben ein Elfmeterschießen vor.“
Und die ungeschriebenen Regeln sehen vor, dass es natürlich Superstar Ronaldo vorbehalten war, Reals Kunst-werk mit dem letzten Schuss aus elf Metern zu vervollständigen. Ausgerechnet Ronaldo ist man fast geneigt zu sagen. Denn dem muskulär angeschlagenen Portugiesen war an diesem lauschigen Abend in Mailand in den 120 vorangegangen Minuten herzlich wenig gelungen. Der erfolgreichste Torschütze der Champions League, der schon vor dem Finale 16 Treffer in dieser Königsklassensaison erzielt hatte, trug sogar durch einen überflüssigen Ballverlust vor dem 1:1 indirekt eine Mitschuld an Atléticos spätem Ausgleichstor. Sein überaus gesundes Selbstbewusstsein sollte unter diesem Schönheitsfehler aber keineswegs leiden. „Ich wusste, dass ich das Tor machen würde“, sagte Ronaldo in seiner üblichen Bescheidenheit. „Jetzt werde ich mich ein paar Tage ausruhen.“
Einen ähnlichen Plan verfolgt auch Toni Kroos, der Mitte der Woche zur Nationalmannschaft in Ascona stoßen will. „Ich brauche schon ein oder zwei Tage Pause. Das weiß der Bundestrainer auch.“ Über seine vorzeitige Ruhepause im Finale von Mailand schien der 26 Jahre alte Nationalspieler dagegen alles andere als erfreut gewesen zu sein. „Ich hatte keine Probleme. Und ich denke auch, dass ich ein gutes Spiel gemacht habe“, beantwortete Kroos die Frage, warum Trainer Zinedine Zidane ihn nach 72 Minuten ausgewechselt hat, vielsagend (siehe rechts).
Immerhin war es der gebürtige Greifswalder Kroos, der bis zu seiner überraschenden Auswechslung den Takt von Reals Spiel bestimmt hatte. Der Mittelfeldchef hatte die meisten Ballkontakte, 93 Prozent seiner Pässe kamen an. Kroos machte kein überragendes Spiel, aber eine Partie ohne auch nur einen einzigen Fehler. „Ich bin in einer guten Verfassung“, sagte das Temperamentsbündel in seiner ihm ganz eigenen Art und Weise.
Und während seine Kollegen bereits im wartenden Mannschaftsbus die Celebración in der Nacht von Mailand begannen, nahm sich der frühere Münchner, der die Champions-League bereits 2013 mit dem FC Bayern gewonnen hatte, alle Zeit der Welt, um das vorangegangene Fußballspiel, das sich so gar nicht ans vorab vereinbarte Drehbuch halten wollte, sachlich zu analysieren: „Wir waren in der ersten Halbzeit besser, dann haben wir das Spiel für meinen Geschmack viel zu sehr aus der Hand gegeben.“
Tatsächlich hatte Diego Simeones Mannschaft auch in Mailand recht ein-drucksvoll unter Beweis gestellt, dass sie für ihren „extraordinären Anführer“ (Jorge Valdano über Simeone) zu allem bereit ist. „Er schickt sie zu immer neuen Opfergängen, und sie gehen mit Entzücken“, beschrieb der argentinische Fußballintellektuelle diese wohl weltweit einmalige Beziehung zwischen Trainer und Mannschaft in der „Süddeutschen“ sehr treffend.
Atléticos Opfergang endete am späten Sonnabend am linken Pfosten.