BerLin. Mario Gomez trifft gegen England und setzt ein Zeichen vor der Nominierung für die EM
Solche Geschichten, sagt Mario Gomez, schreibt nur der Fußball. Wie einer abgeschrieben war, um dann „Phoenix aus der Asche“-mäßig emporzusteigen. Wahnsinn, der Jamie Vardy.
Vardy, der englische Spätzünder, eben noch Amateurkicker mit Fußfessel dank Schlägerei, nun mit 29 Englands Sturmhoffnung, hatte Gomez den Abend versaut, als er mit einem Treffer per Hacke half, aus einem 2:0 für die deutsche Nationalelf in Berlin ein 3:2 für England zu machen. Aber: „Ich freue mich über solche Geschichten“, sagt Gomez. Er ist nämlich dabei, eine ähnliche Auferstehung hinzulegen.
Gomez hat keine Fußfessel getragen, aber genauso unabstreifbar hing das Etikett „Chancentod“ an ihm, seit er bei der EM 2008 mal aus einem Meter übers Tor schoss. Bei keinem anderen ging danach die Spanne zwischen tatsächlich erbrachter Leistung und der öffentlichen Wertschätzung so weit auseinander wie beim 30-Jährigen: „Ich habe viele Tore in meiner Karriere geschossen“, sagt Gomez. In der Bundesliga 138 in 236 Partien für Stuttgart und Bayern. Mindestens in jedem zweiten Spiel traf er auch im Europapokal (40 Tore in 76 Partien). „Aber am Ende habe ich trotzdem nicht immer nur Zufriedenheit mit mir gespürt.“
Am Sonnabend traf der Angreifer zum 2:0 gegen England. Das Publikum, das ihn früher auspfiff, klatschte bei seiner Auswechslung. Es war sein erster Treffer im Nationaltrikot seit seinem Doppelpack gegen die Niederlande bei der EM 2012 und 1382 Tagen. Dass ihm Schiedsrichter Gianluca Rocchi ein zweites Tor wegen vermeintlicher Abseitsstellung klaute, passte in seine Geschichte: Rocchi ist Italiener. „Es scheint nicht so zu laufen mit mir und Italien“, sagt Gomez. Sein Abstieg begann 2013 mit dem Wechsel nach Florenz. Verletzungen warfen ihn oft zurück, bis Bundestrainer Joachim Löw zur Auffassung gelangte, ohne Gomez und alles, was er verkörpert, besser dran zu sein. Das Gegenteil vom 1,89-Meter-Stoßstürmer schoss Deutschland zum WM-Titel: der kleine, falsche Neuner Mario Götze. Nun aber sagt Löw: „Gomez hat wieder das Selbstvertrauen und das Näschen für Tore.“ Götze ist jetzt der Spieler, der Hilfestellung benötigt, und nur deshalb wird er gegen Italien für Gomez beginnen.
Näschen und breite Brust wiedergefunden hat Gomez bei Besiktas Istanbul, wohin er im Sommer wechselte: Mit 19 Treffern führt er die Torjägerliste der türkischen Liga an. „Das hat nichts mit Psychologie zu tun, sondern mit Fitness. Ich habe jetzt wieder die Körner, um die Wege zu gehen“, sagt Gomez. Er habe gespürt, dass der Wechsel seine letzte Chance auf die EM war und jetzt wieder Spaß am Fußball. „Der hat mir eine Zeitlang gefehlt“, sagt Gomez. Und wenn man ihn so pointiert und demütig reden hört, fragt man sich schon, was ihn eigentlich derart um die Gunst des deutschen Publikums gebracht hatte.