Berlin. Der DFB-Manager über die Sicherheit bei Länderspielen und der EM, den Ausfall Schweinsteigers und die Ziele in Frankreich.

Oliver Bierhoff, 47, wird aufgehalten. Im Grand Hyatt Hotel verlangt man für ein Foto mit allen Betreuern nach dem Teammanager. Der Fotograf macht Späße, albert herum und hofft auf gut gelaunte Gesichter. Doch nach dem Attentat von Brüssel ist zumindest Bierhoff der Spaß vergangen. Vor den Klassikern in Berlin gegen England (Sa., 20.45 Uhr/ZDF) und in München gegen Italien (Di., 20.45 Uhr/ARD) hat die Sicherheitsdebatte den Fußball wieder thematisch verdrängt.

Hamburger Abendblatt: Herr Bierhoff, macht sich Ihre Frau Sorgen um Sie, wenn Sie zum Länderspiel reisen?

Oliver Bierhoff: Jeder macht sich zur Zeit Sorgen – gerade nach den Attentaten von Paris und in Brüssel. Dabei hatte man das trügerische Gefühl, dass man sich gerade wieder etwas sicherer fühlen konnte. Und genau diese Unberechenbarkeit macht den Menschen Angst. Das ist bei mir auch nicht anders. Ich bin viel unterwegs, bin oft an Flughäfen, in großen Städten, bei Veranstaltungen. Da macht man sich nach der Terrornacht von Paris natürlich seine Gedanken. Früher, zum Beispiel bei den Weltmeisterschaften in Südafrika und in Brasilien, wusste man, dass man bestimmte Orte zu meiden hatte. Heute kann man sich nirgendwo mehr sicher fühlen. Man weiß, dass es immer und überall passieren kann. Und gerade dann, wenn man diesen Gedanken erfolgreich verdrängt hat, wird man durch ein Ereignis wie in Brüssel auf brutale Art und Weise daran zurückerinnert.

Wie oft ist die Nacht von Paris noch ein Thema bei Ihnen in der Familie?

Bierhoff : Das hält sich Gott sei Dank in Grenzen. Direkt danach war dieses schreckliche Erlebnis natürlich bei uns ein großes Thema. Ich glaube, ein Vorteil war, dass ich mir während dieser Nacht gar nicht erlauben konnte, mir zu große Gedanken zu machen. Ich hatte keine Zeit und war für diese rund 80 Menschen in den Katakomben vom Stade de France verantwortlich. Darum ging es. In so einem Moment funktioniert man einfach.

Sie hatten keine Angst um Ihr Leben?

Bierhoff : Doch, natürlich. Es gab ja viele Informationen und auch Fehlinformationen in dieser Nacht. Zwischenzeitlich hatte ich Angst, dass wir als Weltmeister das Ziel der Terroristen sein könnten. Diese Angst konnte ich wegschieben, doch so richtig greifen konnte ich das alles nicht. Man kann sich sicherlich tagelang den Kopf über die Sicherheit zerbrechen, aber hundertprozentige Sicherheit gibt es leider nicht. Deswegen hat man keine Chance, außer den Sicherheitskräften zu vertrauen.

Können Sie sich denn uneingeschränkt auf diese Hochsicherheits-EM freuen?

Bierhoff : Die Freude auf so ein großes Turnier ist absolut da – und diese Freude werde ich mir auch nicht nehmen lassen. Eindeutig wird die Sicherheit eine größere Rolle in diesem Sommer spielen, doch wenn der Ball erst mal rollt, dann entsteht zumindest für den Moment eine Art Schein-Normalität.

Sie sagten jetzt in Berlin, dass Sie sich bei einer entsprechenden Gefahrenlage auch EM-Spiele ohne Zuschauer vorstellen könnten. Ist dieser Preis nicht zu hoch?

Bierhoff : Diese Frage ist extrem schwer zu beantworten. Auf der einen Seite geht die Sicherheit der Menschen natürlich immer vor, auf der anderen Seite wollen wir uns unsere Freiheit auch nicht einschränken lassen. Genau vor dieser wichtigen Frage stand auch Bundesinnenminister Thomas de Maizière in Hannover, als er entscheiden musste, ob er unser Spiel gegen die Niederlande absagt oder nicht.

Die gleiche Frage müssen Sie sich auch stellen, wenn es darum geht, ob Sie überhaupt noch eine öffentliche Trainingseinheit anbieten können.

Bierhoff : Laut den Regularien müssen wir vor der EM ein öffentliches Training anbieten. Da müssen sich die Menschen dann leider auch auf umfassendere Sicherheitsmaßnahmen einstellen. Und trotzdem sollte man sich eine gewisse Lockerheit bewahren.

Wie sehr beschäftigt Sie das Thema Sicherheit im Hinblick auf das Mannschaftsquartier in Evian?

Bierhoff : Nach all dem, was passiert ist, müssen wir auf die Sicherheit vor Ort ein besonderes Augenmerk legen. Mit Hendrik Große-Lefert haben wir einen Sicherheitsexperten dabei. Trotzdem wollen wir keine Hochsicherheitsfestung in Evian.

Täuscht der Eindruck, dass die Debatte über das Turnier-Teamquartier einer Nationalmannschaft nirgendwo so heiß geführt wird wie in Deutschland?

Bierhoff : Nein, das ist so. Aber wir haben in letzter Zeit ja auch dazu beigetragen (schmunzelt). Teamquartiere in Deutschland hatten schon immer eine besondere Geschichte: Das fing an mit Spiez 1954 und ging weiter mit dem Geist von Malente 1974. Bei der WM 2006 haben wir mit dem Quartier in Berlin das erste Mal ein Zeichen gesetzt. Ich glaube, dass die Atmosphäre bei einem Turnier sehr wichtig ist. Campo Bahia 2014 war im Nachhinein das Paradebeispiel: Auch damals gab es Dinge, die vorher keiner verstanden hat wie die Fähre und die Abgeschiedenheit. Aber dann gab es einen Tag, da hat Hansi Flick zu mir gesagt: „Guck mal, genau so haben wir uns das gewünscht.“ Jerome Boateng spielte mit seinen Kindern, Jogi Löw sprach daneben mit Philipp Lahm, und gegenüber saß Per Mertesacker im Eisbecken. Alles zusammen auf einem Fleck. Deshalb glaube ich: Ein Teil des Erfolgs war auch die Atmosphäre und Stimmung, die wir im Quartier geschaffen haben. Zumindest waren das ein paar Prozentpunkte.

Welches Zeichen wollen Sie nun setzen?

Bierhoff : Ein zweites Campo Bahia schafft man nicht. Das war verrückt und einmalig. Eigentlich wollte ich nun einen totalen Bruch, dass man gar keine Vergleiche zu Brasilien anstellt. Uns ist wichtig: gutes Wetter, viel Licht, kurze Wege und eine gute Atmosphäre. Das hat auch nichts damit zu tun, wie viele Sterne das Hotel hat, sondern ob man sich in den Räumen immer wieder begegnet. Hier im Teamhotel in Berlin muss ich mit den Spielern fast einen Termin machen, damit ich sie sehe. Das soll in Evian anders sein. Wir wären gern auch nach Paris gegangen. Das wäre auch ein Zeichen gewesen. In der Art: Wir sind Weltmeister, wir sehen uns da, wo wir auch das Finale spielen wollen. Aber rund um Paris haben wir nicht das Passende gefunden. Ein Schloss mit barocken Zimmern wollten wir nicht.

Wird es wieder Spieler-WGs geben?

Bierhoff : Wenn ich ein Quartier hätte bauen können, hätte ich mir schon etwas einfallen lassen. Aber in Evian sind wir an die Hotelstrukturen gebunden. Es wird deshalb Einzelzimmer geben.

Werden Sie das Hotel gestalten wie in Brasilien, wo es zum Beispiel viele einheimische Kunstwerke und große Fotografien von vergangenen Erfolgen gab?

Bierhoff : Das überlegen wir noch. Es darf aber nicht gewollt und aufgesetzt wirken. Vielleicht schaffen wir es, diese Leichtigkeit und Lebensfreude, die Frankreich ausstrahlt, dorthin zu transportieren. Mir ist es wichtig, dass die Sinne der Spieler nicht einschlafen. Sie sollen nicht das Gefühl haben: Das ist hier wie in den 50 Trainingslagern meiner Karriere davor. Es soll immer wieder neue Reize geben. Das kann ich in Evian zwar nicht mit Baumaßnahmen erzeugen, vielleicht aber mit anderen Ideen – und sei es mit einer anderen Art des Büffets.

Für die Freizeitbeschäftigung wird es wohl immer die Klassiker Tischtennis, Billard und Darts geben, oder?

Bierhoff : Ich habe früher immer Karten gespielt. Heute habe ich dafür gar keine Zeit mehr. In Evian ist es schön, dass es in der Nähe einen Golfplatz gibt. Wenn wir mal einen freien Nachmittag haben, kann ich Thomas Müller fordern...

Musste man der Generation Bierhoff andere Dinge bieten als der Generation Götze heute?

Bierhoff : Die Zyklen einer Generation werden ja immer kürzer. Es gab die Generation Frings, Ballack, Kahn, dann kamen Lahm, Mertesacker, Schwein­steiger, danach Khedira, Özil, Götze. Jetzt sind es wieder noch jüngere. Ich habe ein bisschen den Eindruck, das wird noch intensiver werden. Früher haben die 23-Jährigen genauso Karten gespielt wie die 32-Jährigen. Heute wissen die Jüngeren ja kaum noch, was eine SMS ist. Die Altersgruppen haben einen ganz anderen Rhythmus. Es ist alles individueller geworden. Aber wir haben hier Abläufe, bei denen alle zusammenfinden müssen.

Aus Ihrer Anfangs-Generation als DFB-Manager sind als Spieler nur noch Lukas Podolski und Bastian Schweinsteiger dabei. Der Kapitän droht nun für das Turnier verletzt auszufallen. Wie schwer würde sein Ausfall wiegen?

Bierhoff : Das ist ein herber Rückschlag für ihn, aber es ist sicherlich noch alles möglich. Das haben Sami Khedira und er selbst auch vor und während der WM in Brasilien gezeigt. Bastian hat genug Qualität und Erfahrung, um das eventuell kompensieren zu können. Wir hatten mit Ballack mal eine ähnliche Thematik. Seine Absage machte einen Raum frei, den andere Spieler nutzen konnten. Damals verteilte sich die Verantwortung dann nicht mehr auf einen Spieler, sondern auf mehrere. Das ist jetzt in diesem Fall nicht so extrem, weil andere Führungsspieler schon länger dabei sind. Als Persönlichkeit und als Spieler ist Bastian sehr wichtig, aber die Gruppe wäre stark genug, den möglichen Ausfall aufzufangen.

Wann ist die EM eine erfolgreiche EM?

Bierhoff : Diese Frage wird mir vor jedem Turnier gestellt.

Aber nicht in jedes Turnier geht die Mannschaft als Weltmeister.

Bierhoff : Bei der WM sagten wir: Wenn wir das Viertelfinale erreichen, ist es ein gewisser Erfolg. Mittlerweile müssen wir unsere Ansprüche etwas höher schrauben. Wenn wir es unter die ersten vier schaffen, dann ist es schon ein Erfolg.