Hamburg. Rafael Nadal will am Rothenbaum Selbstvertrauen sammeln – und Punkte, um in der Weltrangliste nicht aus den Top Ten zu stürzen.
Die Nacht war längst hereingebrochen, die Temperaturen näherten sich der Null-Grad-Marke. Doch die knapp 300 verbliebenen Tennisfans auf dem Centre-Court am Rothenbaum wickelten sich fester in ihre Decken. Gehen war keine Option, denn dort, unter Flutlicht auf dem roten Sand, duellierte sich der kommende Dominator des Welttennis mit seinem Mentor. Und auch wenn niemand ahnen konnte, wie weit es dieser 16 Jahre alte Spanier wirklich bringen würde: Allen, die Rafael Nadal an jenem 14. Mai 2003 mit 7:5 und 6:4 gegen Carlos Moya siegen sahen, war klar, dass sie Zeuge eines ganz besonderen Moments geworden waren.
Zwölf Jahre und zweieinhalb Monate später sitzt Rafael Nadal im Pressezentrum im Bauch des Tennisstadions an der Hallerstraße und erfreut sich an der Erinnerung. „Natürlich war das Match gegen Carlos etwas Besonderes. 2003 habe ich erstmals an der Mastersserie teilgenommen, Hamburg war ein sehr wichtiges Turnier in meiner Entwicklung“, sagt er. Einen ähnlichen Moment der Erschließung ungeahnter Leistungsquellen könnte der 29 Jahre alte Spanier auch in dieser Woche bei den Bet-at-home-Open benötigen. Nadal ist nach sechsjähriger Abstinenz zurück am Rothenbaum, und es ist nicht die Sehnsucht gewesen nach „dem immer etwas zu kalten Wetter“, die ihn dazu bewog.
Der „Sandplatz-König“, der zwischen August 2008 und Juli 2014 die Tenniswelt 141 Wochen lang von der Spitze betrachten konnte, braucht schlicht Punkte, um in der Weltrangliste nicht aus den Top Ten zu stürzen. Nach einem Jahr mit wenigen Höhen bei den Turniersiegen in Buenos Aires (Sand) und Stuttgart (Rasen) und ernüchternden Tiefen wie der Dreisatzniederlage gegen Branchenprimus Novak Djokovic (Serbien) bei den French Open und dem Zweitrundenaus in Wimbledon gegen den Deutschen Dustin Brown musste der Mallorquiner seine Planung umstellen. „Normalerweise bereite ich mich zu dieser Zeit auf die Hartplatzsaison vor. Aber die Situation hat sich verändert, und Hamburg ist für mich jetzt eine gute Option, um Punkte zu sammeln und mich für die US Open in Form zu bringen“, sagt Nadal.
Die besten Bilder vom Rothenbaum-Turnier
Nadal rechnet sich gute Chancen aus
500 Zähler bringt ein Sieg am Rothenbaum für das Ranking, und auch wenn Nadal angesichts der hochklassigen Konkurrenz aus dem eigenen Land (Nicolas Almagro, Tommy Robredo, Roberto Bautista Agut) oder seines italienischen Angstgegners Fabio Fognini nicht davon ausgeht, den Titel im Vorbeigehen mitzunehmen, rechnet er sich gute Chancen aus, neben Punkten und Preisgeld Selbstvertrauen zu sammeln. Dass es ihm daran mangelt, konnten Beobachter in Wimbledon feststellen. Nach seiner Pleite gegen Brown wirkte Nadal konsterniert wie selten zuvor, weil es keinen ersichtlichen Grund für den fast schon blamabel schwachen Auftritt gegeben hatte. „Ich hatte mich gut vorbereitet, fühlte mich körperlich gut. Doch ich habe einen sehr schlechten Tag gehabt. Ich muss akzeptieren, dass das zum Sport gehört“, sagt er.
Tiefer will er sich in die geschundene Seele nicht blicken lassen. „Es ist nicht wichtig, wie lange ich gebraucht habe, die Niederlage von Wimbledon zu verarbeiten. Wichtig ist nur, dass ich hart arbeite, um wieder auf mein Level zu kommen“, sagt er knapp. Seit London hat Nadal kein Turnier gespielt, er hat auf Mallorca trainiert und ist am Freitag in Hamburg angekommen. Die Voraussetzungen, um das harte Erstrundenmatch voraussichtlich am Dienstag gegen seinen Landsmann Fernando Verdasco zu überstehen und damit einen Siegeszug zu starten, scheinen zumindest körperlich gegeben.
Bis auf drei Finger der linken Schlaghand war kein Körperteil bandagiert, als Nadal auf dem Centre-Court trainierte. 90 Minuten brauchte er, um in den Rhythmus zu kommen. Überkopfbälle fielen ihm schwer, auch die Grundschläge kamen nicht in der gewünschten Länge. Die chronisch maladen Knie aber scheinen zu halten. Dass er zu oft in einem nicht vertretbaren physischen Zustand auf die Tour zurückgekehrt ist, weiß der 185 cm große Athlet. Er hat Raubbau an seinem Körper betrieben, sein immens kraftraubendes Powertennis fordert seinen Tribut. „Derzeit fühle ich mich fit, es tut nichts weh“, sagt Nadal. Jetzt muss er noch den Kopf wieder auf Erfolg polen.
Dabei helfen soll auch die Erinnerung an 2008. Bei seiner dritten und bislang letzten Teilnahme in Hamburg holte Nadal den Titel, im Finale bezwang er den Schweizer Roger Federer, dem er im Vorjahr im Endspiel unterlegen war. 2007 endete mit der Niederlage am Rothenbaum seine bis heute beständige Rekordserie mit 81 Siegen auf Sand in Folge. 2008 war das letzte Jahr, in dem Hamburg Teil der Mastersserie war, bevor es in die 500er-Kategorie, nach Grand Slam und Masters die dritthöchste Turnierklasse der Welttour, zurückgestuft wurde. „Trotzdem ist Hamburg immer noch ein wichtiges Turnier mit einer großartigen Geschichte“, sagt Nadal. Fast klingt es ein wenig trotzig, als müsste er sich schönreden, hier antreten zu müssen.
66 Titel konnte Nadal bislang gewinnen. 2008 war er Olympiasieger
Doch einem Arbeitstier wie Nadal zu unterstellen, ein Turnier als lästige Pflichterfüllung zu betrachten, wäre unangemessen. Einer wie er, der mit neun Triumphen Rekordsieger der French Open ist, der aber auch die anderen Grand-Slam-Turniere in Melbourne, New York (2) und Wimbledon (2) gewann, insgesamt 66 Titel und 2008 Olympiagold im Einzel holte, spielt immer, um zu gewinnen. Er weiß auch um seine Verantwortung als Zugpferd, er will die 500.000 Euro Antrittsgage, die er bei Turnieren ohne Startverpflichtung in der Regel einstreicht, rechtfertigen, auch wenn er Bescheidenheit vorgibt. „Ich bedanke mich bei allen, die wegen mir zum Tennis kommen“, sagt er, „aber vor allem kommen die vielen Fans wegen des Sports, und genau darum geht es: Dass Tennis größer ist als all die Namen derer, die es spielen.“
Es ist diese Einstellung, die Nadal zu einem allseits geschätzten Sportsmann gemacht hat. Auch wenn er seine Gegner mit seinen zeitraubenden Ritualen vor dem eigenen Aufschlag bisweilen entnervt, hat der bullige Weltranglistenzehnte den Ruf eines tadellosen Athleten, der sich für das Wohlergehen der Gesamtheit mit seiner „Rafa Nadal Stiftung“ mindestens ebenso stark engagiert wie für das eigene Fortkommen. Besonders wichtig ist dem Weltsportler des Jahres 2010 die Familie. Seit vielen Jahren ist sein Onkel Toni Nadal sein Trainer. Von einem anderen Onkel, dem ehemaligen spanischen Nationalspieler Miguel Angel Nadal, hat er seine Fußballleidenschaft geerbt. Und noch immer lebt er auf Mallorca, wo sein Vater Sebastian eine Glas- und Fensterfabrik betreibt.
Kein Wunder ist es also, dass er in diesem Jahr das Toptalent Jaume Munar mit nach Hamburg bringt. Turnierdirektor Michael Stich musste als Bedingung für einen Start Nadals dem 18-Jährigen, der 2014 bei den French Open im Juniorenfinale stand, ebenfalls eine Wildcard fürs Hauptfeld zur Verfügung stellen, zudem erhielten sie gemeinsam ein Freiticket fürs Doppel. „Jaume ist eins der größten Talente auf der ATP-Tour, er ist ein guter Typ, und er kommt auch von Mallorca. Ich versuche ihm ein bisschen zu helfen“, sagt Nadal. Was aber, wenn es so läuft wie 2003? Wenn der Zögling seinen Mentor besiegt, so wie er damals Moya? Nadal muss grinsen, dann sagt er: „Ich hoffe nicht, dass das passiert.“ Mit weniger als dem Pokal wird er sich auch in diesem Jahr nicht zufriedengeben.