Ottawa. Die Bundestrainerin über die Lehren aus der Heim-WM und die neuen Herausforderungen bei der am Sonntag beginnenden Endrunde in Kanada.

Ausgesprochen gelassen wirkt Silvia Neid, 51, vor dem Beginn der Fußball-WM der Frauen in Kanada, die an diesem Sonnabend beginnt und am 5. Juli mit dem Finale endet. Für die Bundestrainerin ist es das letzte große Turnier, bei der sie für das deutsche Team verantwortlich ist. Nach dem Titelgewinn 2007 und dem Viertelfinal-Aus bei der Heim-WM 2011 warten jetzt besondere Herausforderungen auf das Team von Silvia Neid, die im Sommer 2016 ihr Amt an Steffi Jones übergeben wird. Bei einem frühen Aus und dem Verpassen der Olympia-Qualifikation wäre eine frühere Amtsübergabe möglich. Vor dem Auftaktspiel der Deutschen am Sonntag (22 Uhr, ZDF live) gegen das Team der Elfenbeinküste nahm sich Silvia Neid Zeit für ein Gespräch mit dem Abendblatt.

Hamburger Abendblatt: Die WM in Kanada findet erstmals mit 24 Mannschaften statt. Das deutsche Team trifft gleich auf den Neuling Elfenbeinküste. Was wissen Sie über solch einen Gegner?

Silvia Neid: Es ist ganz schwer, da an DVD-Material zu kommen. Eigentlich sollte so etwas von den Verbänden zur Verfügung gestellt werden, aber uns wurde mitgeteilt, dass das letzte Testspiel abgesagt wurde. Das ist ärgerlich, unsere Scouts sind dann nicht gefahren. Wir haben zwar schon vier DVDs von ihnen, aber die sind von November. Und die Mannschaft entwickelt sich ja weiter. Deswegen wäre es ein Muss gewesen, sie noch einmal sehen.

Neu wird auch sein, dass dieses Turnier komplett auf Kunstrasen gespielt wird.

Neid : Meine Haltung hat sich nicht verändert: Diese WM hätte auf Naturrasen gehört. Aber es ist so, wie es ist.

Die gesamte Vorbereitung in Feusisberg nahe am Zürichsee haben Sie Ihre Spielerinnen und auch das Testspiel gegen die Schweiz auf dem so genannten Fieldturf-Belag bestreiten lassen, der auch in den kanadischen Stadien liegt. Wie fällt das Fazit Ihrer Vorbereitung aus?

Neid : Wir haben in der Vorbereitung unter anderem dank unserer Überprüfung anhand von Blutwerten festgestellt, dass die Spielerinnen bei zwei Einheiten am Tag ermüden. Also haben wir dann nur noch einmal auf dem Platz trainiert. Am Anfang gab es Probleme an vielen Körperstellen: Schienbeinmuskel, Achillessehne, Adduktoren, Rücken. Denn wenn man abstoppt, dann steht man abrupt. Bei den Bällen ist das anders: Die fliegen oft ins Aus, wenn sie nicht genau getimt werden. Die Ballannahme muss perfekt sein. Das Spiel wird schneller, gerade wenn der Platz nass ist. Ein Problem sind auch die Schuhe, die viel schneller verschleißen. Da hat es in der Schweiz fast einen Lastwagen mit neuen gebraucht.

Ein Ascheplatz ist aber schlimmer, oder?

Neid : Zu meiner Anfangszeit als aktive Spielerin gab es bei meinen ersten Vereinen fast nur Ascheplätze. Da waren wir Frauen froh, wenn wir mal auf die grüne Wiese durften. Ein Tackling auf dem Ascheplatz war ja damals noch damit verbunden, dass 30 Jahre später die roten Körner in der Haut steckten – zum Glück habe ich nie so oft gegrätscht (lacht).

Ihr Kader wirkt trotzdem gut vorbereitet, sehr fokussiert und auch selbstbewusst. Täuscht der Eindruck?

Neid : Nein, dieser Kader kann viel, das ist aber auch alles hart erarbeitet und nicht vom Himmel gefallen. Wir hatten vor zwei Jahren vor der EM immense Verletzungsprobleme und haben trotzdem den Titel geholt. Jetzt sind viele Spielerinnen noch einen Schritt weiter, wir haben eine Spielidee und können wirklich selbstbewusst in das Turnier gehen. Wobei es dann auch immer auf die Tagesform ankommt.

Wie weit muss ihr Team kommen, damit Sie das Turnier als sportlichen Erfolg verbuchen?

Neid : Das Halbfinale wäre für mich ein Riesenerfolg. Aber dieser Weg ist steinig und hart.

Warum?

Neid : Wegen des riesengroßen Landes mit den verschiedenen Zeitzonen, wegen der erwähnten Kunstrasenplätze und wegen der Qualität der anderen Nationen. Es gibt mehr Mannschaften als je zuvor, die Weltmeister werden können. Kanada, USA, Japan, Brasilien, aus Europa Frankreich, Schweden, Norwegen und wir. Und dahinter können England, Nigeria, Spanien oder Australien den Favoriten jederzeit ein Bein stellen. Die Australierinnen bereiten sich bereits seit Oktober vor und sind in eine Junioren-Liga eingegliedert, wo sie ständig gegen Jungs antreten. Auch Kanada, Brasilien oder Japan sind seit Herbst vergangenen Jahres zusammengezogen. Dafür haben diese Nationen nicht einen so hochkarätigen Vereinsfußball wie wir.

Die Teamhotels beim Turnier werden strikt vom Weltverband, von der Fifa zugeteilt. Teilweise werden bis zu sechs Mannschaften unter einem Dach wohnen. Ist das noch zeitgemäß?

Neid : Es ist halt nicht so wie bei den Männern, die ein Basisquartier beziehen, um alle fünf Tage zu ihrem Spiel zu fliegen. Bei uns läuft das immer noch anders ab: In einem Hotel wohnen meist vier Teams, und dann auch noch die, gegen die wir gerade spielen. Man sieht sich ständig, das ist störend. Und wir mussten teilweise darum kämpfen, dass wir einen eigenen Besprechungsraum bekommen. Dafür war beispielsweise der Speisesaal vorgesehen. Das ist nicht mehr zeitgemäß. Wobei ich auch gehört habe, dass sich das ändern soll.

Sie sind bereits mit Deutschland 2007 Weltmeister geworden. Ihre Mannschaftsführerin Nadine Angerer arbeitet in ihrer Biografie stark heraus, welche entscheidenden Prozesse sich damals innerhalb der Mannschaft abgespielt haben. Ist der aktuelle Kader mental ähnlich stark?

Neid : Bei der EM 2013 ging es doch um genau dasselbe Thema. Wir waren nicht besser als Frankreich, aber wir haben uns bis ins Finale durchgespielt und durchgekämpft. Es geht am Ende tatsächlich um Nuancen, und wir hatten einen wahnsinnigen Teamgeist, besondere Persönlichkeiten – und ein bisschen Glück.

Lässt sich dieser angesprochene Teamgeist leichter finden, wenn man weniger Druck und mehr Ruhe hat als bei der Heim-WM 2011?

Neid : Die Heim-WM war eine außergewöhnliche Situation für uns alle. Mit der Erfahrung von 2011 würden wir jetzt viele Situationen anders angehen. Ich gebe mal ein gutes Beispiel: Eigentlich sind bei uns auf den Fluren immer alle Türen offen, und man kann überall reinschauen oder miteinander sprechen. Bei der WM 2011 waren auf einmal alle Türen zu, weil jeder erst mal mit dieser ungewöhnlichen Situation klar kommen musste. Der Fokus lag nicht mehr auf dem großen Ganzen.

Hätten Sie die Türen im Nachhinein nicht aufmachen müssen?

Neid : Um was zu erreichen? Teamgeist entsteht doch nicht durch Zwang, auch wenn ich als Trainerin natürlich Impulse setzen kann.

Sie haben sich frühzeitig dazu entschlossen, bekannt zu} geben, dass Sie Ihren Vertrag 2016 nicht verlängern. Wie geht es Ihnen jetzt damit?

Neid : Seitdem ich den Entschluss gefasst habe, genieße ich alles noch mehr: Das Zusammensein mit der Mannschaft, die Arbeit auf dem Platz und sogar die Medientermine (lacht). Mir war wichtig, dass ich selbstbestimmt sagen konnte, wann für mich Schluss ist. Ich freue mich auf das, was nach 2016 kommt – durch die neue Aufgabe beim DFB (als Leiterin des Scoutings, Anmerkung der Redaktion) bleibe ich dem Frauenfußball verbunden, nur stehe ich nicht mehr so in der Öffentlichkeit, weil ich nicht mehr für den gesamten sportlichen Bereich des Frauen- und Mädchenfußballs verantwortlich bin. Das ist dann Steffi Jones.

Bei der Benennung ihrer Nachfolgerin klang Kritik ob der mangelnden Erfahrung im Trainerberuf durch…

Neid : ...natürlich ist das ein Kritikpunkt, mit dem die Entscheider und auch sie gerechnet haben. Es ist sicher ungewöhnlich, dass jemand ohne diese vorherige Trainer-Erfahrung Bundestrainerin wird. Ich finde das auf jeden Fall mutig von ihr, ich hätte das nicht gemacht. Als ich neun Jahre Assistentin von Tina Theune war, musste ich noch überredet werden, die Chefrolle anzunehmen. Man sollte allerdings nicht vorab alles nur kritisieren. Erfolge sind im Trainerjob das A und O. Hat eine Trainerin viel Erfahrung, aber keinen Erfolg, hilft das auch nicht weiter.

Wird Steffi Jones in Kanada schon bei der Mannschaft sein?

Neid : Sie kann kommen, wann sie will. Ich hoffe das sogar. Ich werde sie unterstützen, wo ich kann. Im Moment arbeitet sie ja noch als DFB-Direktorin für den Frauenfußball, da denke ich, dass sie uns sicher besuchen wird.