Karlsruhe. Ausgerechnet der als Fehleinkauf bezeichnete Nicolai Müller und der lang verletzte Marcelo Díaz erzielten die wohl wichtigsten Tore der jüngsten HSV-Clubgeschichte
Uwe Seeler? Klar, den kennen sie. Seine Tore, mal mit rechts, mal mit links, mal mit dem Knie und mal mit dem Hinterkopf. Auch Felix Magaths Treffer im Europapokalfinale der Landesmeister 1983 haben Nicolai Müller und Marcelo Díaz sicherlich mal bei YouTube gesehen. Aber Georg Volkerts Tor gegen Anderlecht zum ersten internationalen Titel 1977? Oder all die entscheidenden Treffer, die zu sechs deutschen Meisterschaften geführt haben? Wahrscheinlich noch nie gesehen. Macht aber nichts. Denn seit Montagabend, 21.30 Uhr, dürfen dieser Müller und jener Díaz behaupten, dass ihre beiden Tore zum 2:1 gegen den KSC auch zu den wichtigsten Treffer in der HSV-Vereinsgeschichte gehören.
Das eine Tor – ein Gedicht. Mit „dem rechten Zauberfüßchen“ (Müller über Díaz) elegant über die Mauer gechippt. Das andere Tor ein klassischer Abstauber. Gemüllert, aus vier Metern, mit rechts. Der letzte Treffer dieser Spielzeit, erzielt vom Schützen des ersten Hamburger Saisontors.
„Puh, das ist nicht ganz einfach“, beantwortete Müller wenige Minuten später allen Ernstes die rhetorische Frage, ob es das wichtigste Tor seiner Karriere war. Er habe da mal einen Treffer im DFB-Pokal erzielt, sagt er. Mit Fürth. Gegen Ahlen. Vor sechs Jahren. Zweite Runde, Verlängerung. Zum 3:2. „Das war auch wichtig.“ Geht’s noch? Es wird diskutiert. „Nicolai, lass dir sagen“, sagt schließlich ein Journalist, „es war dein wichtigstes Tor.“
Der Klügere gibt nach. Also gut, sagt dieser Müller also, dann war es eben das wichtigste Tor. „Aber nach dem Tor mit Fürth ging meine Karriere erst so richtig los. Vielleicht geht ja nun nach diesem Tor auch meine Karriere beim HSV endlich richtig los.“
Im Moment seines Triumphs vergaß Müller die vergangenen schwierigen Monate nicht: „Mein Rucksack war ziemlich groß in diesem Jahr“, erklärte der Offensivmann, der mehrfach, auch vom Abendblatt, als teurer Millionen-Fehleinkauf abgestempelt wurde. Kein Wunder: 4,5 Millionen Euro hat der frühere Mainzer, der in 27 Einsätzen gerade mal ein Bundesligator erzielt hatte, gekostet. „Ich habe ja nicht gerade vor Leichtigkeit gestrotzt“, sagt der 27 Jahre alte Ex-Nationalspieler, der kein Geheimnis mehr daraus machen will, dass ihm die Kritik zugesetzt hat. Zugesetzt hatte. Bis Montag. „Dieser Rucksack ist von der einen auf die andere Sekunde von mir abgefallen“, sagt er. Sein Gedanke vor dem Tor? „Nun drück ihn endlich rüber!“ Sein Gedanke nach dem Tor? „Das Wichtigste war, dass wir jetzt zwei Extrawochen Urlaub haben – nicht die Bundesliga war wichtig, sondern der Urlaub.“ Müller lacht. Doch dann wird er schnell wieder ernst. „Natürlich freue ich mich auf den Urlaub. Aber vor allem freue ich mich auf einen Neustart.“
Darauf, also auf den Urlaub nach der Copa América und seinen erhofften Neustart, freut sich auch Díaz, der andere Torheld. Auch für ihn kein einfaches Jahr. Der Chilene kam im Januar aus Basel, sollte für lang vermisste Spielkultur sorgen und riss sich prompt das Innenband im Knie. Pause. Rehatraining. Neustart. Und dann? Eine Zerrung. Wieder Pause. Wieder Rehatraining. Und wieder ein Neustart.
So machte er bis zum letzten Spieltag gerade mal fünf Spiele, ehe el pequeño, der Kleine, wieder ohne Spielpraxis als Hoffnungsträger für den gesperrten Rafael van der Vaart herhalten sollte. Gegen Schalke ordnete also Díaz das defensive Mittelfeld. Die Folge: Der HSV gewann 2:0, kassierte kein Gegentor. Dann das erste Relegationsspiel. Mit Díaz. Ohne van der Vaart. 0:0. Und schließlich das zweite Relegationsspiel. Mit Díaz. Mit van der Vaart. Und mit dieser einen Szene, die wohl kein HSV-Fan je vergessen wird: 91. Minute. Freistoß aus zentraler Position. Díaz und van der Vaart stehen bereit. Van der Vaart küsst den Ball. Díaz sagt: „Schieß du.“ Van der Vaart sagt: „Ich schieße.“ Doch Díaz schießt, und der Ball ist drin.
„Für mich ist der Wahnsinn überhaupt, dass Rafa Marcelo hat schießen lassen“, sagt Sportchef Peter Knäbel, als Díaz, Müller und van der Vaart mit freiem Oberkörper lustige Lieder in der Kabine singen. „Es war der beste Freistoß, den Rafa nie geschossen hat. Viele wollen mit der letzten Aktion ihrer selbst wegen zum Helden werden. Rafa aber nicht. Und Marcelo kann das. Das war klar, und das wusste ich. Die Guten entscheiden das unter sich.“