„Unsere Mannschaft hat die Qualität und die nötige psychische Stabilität, um zumindest das Halbfinale zu erreichen“, sagt der ehemalige Meistertrainer des HSV Martin Schwalb im Interview.
Hamburg/Doha. Die deutsche Handball-Nationalmannschaft hat mit einem 36:19 (18:8)-Erfolg über Saudi-Arabien wie erwartet die Vorrunde als Sieger der Gruppe D abgeschlossen. Gegen den punktlosen und überforderten Gruppenletzten, bei dem kein Spieler mehr als 1,85 Meter maß, bot der isländische Bundestrainer Dagur Sigurdsson, 41, eine Auswahl mit Spielern auf, die bei der WM in Katar bislang kaum Wurfpraxis erhalten hatten. Der nachnominierte Linksaußen Matthias Musche (SC Magdeburg) und Rechtaußen Johannes Sellin (MT Melsungen) erzielten jeweils elf Tore.
Im Achtelfinale trifft das deutsche Team am Montag (16.30 Uhr; Sky live) in Lusail auf den fünfmaligen Afrikameister Ägypten, in einem möglich Viertelfinale wäre am Mittwoch in Doha Gastgeber Katar der Gegner, im Halbfinale am Freitag wohl mit Kroatien einer der WM-Favoriten. „Unsere Mannschaft hat die Qualität und die nötige psychische Stabilität, um zumindest das Halbfinale zu erreichen“, sagt Sky-Experte Martin Schwalb, 51, im Gespräch mit dem Abendblatt. Der ehemalige Meistertrainer des HSV war neun Tage bei der WM vor Ort.
Hamburger Abendblatt: Herr Schwalb, wie überrascht sind Sie vom bisherigen Abschneiden der deutschen Mannschaft?
Martin Schwalb: Dass sie eine ordentliche Rolle bei dieser WM spielen würde, hatte ich erwartet, dass sie gleich Gruppensieger werden würde, eher nicht. Aber wir sollten nicht vergessen, dass wir bei der Weltmeisterschaft vor zwei Jahren in Spanien Olympiasieger Frankreich besiegt haben, ebenfalls Gruppensieger geworden sind und im Viertelfinale den späteren Weltmeister Spanien am Rande einer Niederlage hatten. Der deutsche Handball ist nicht so schlecht, wie er in den vergangenen Jahren geredet wurde. Handball ist nun mal eine Sportart, in der Erfolg und Misserfolg oft an ein, zwei Toren hängen. Und da hatten wir zuletzt nicht immer das glücklichste Händchen.
In der Vorrunde hat die Mannschaft ohne Druck spielen können, weil niemand Großes von ihr erwartete. Ändert sich das jetzt vom Achtelfinale an?
Schwalb: Die Mannschaft macht auf mich einen gefestigten, stabilen Eindruck. Die spielerische und taktische Qualität hat sie allemal, weiter erfolgreich zu sein. Sie hat in der Gruppenphase ja die unterschiedlichsten Situationen gemeistert: Gegen Polen (29:26) hat sie eine starke erste Halbzeit gespielt und nach einer schwachen zweiten den Sieg in den letzten Minuten noch gerettet. Gegen die Russen (27:26) lag sie zur Halbzeit mit vier Toren zurück, und gegen Vizeweltmeister Dänemark (30:30) war das 60 Minuten lang ein ganz enges Spiel. Natürlich ist in der K.-o.-Runde die Psyche besonders gefragt, wenn es keine zweite oder dritte Chance mehr gibt. Da könnte es ein Vorteil sein, dass bislang von außen keine großen Erwartungen an die Mannschaft herangetragen wurden, sondern sie ihre Ziele selbst definiert. Und dass die Spieler riesigen Spaß bei diesem Turnier haben, sieht man ihnen deutlich an. Dadurch ist eine gewisse Lockerheit entstanden und gewährleistet. Die kann in kritischen Momenten helfen.
Welche Rolle spielt Dagur Sigurdsson, der neue Bundestrainer?
Schwalb: Dagur ist ein gestandener und erfahrener Bundesligatrainer. Er weiß genau, wann was zu tun ist. Diese Kompetenz strahlt er in jeder Phase des Spiels, bei jeder Auszeit aus. Das schafft bei den Spielern Vertrauen. Sie wissen, dass sie sich auf seine Einschätzungen und Maßnahmen verlassen können.
In den vergangenen Jahren wurde immer wieder beklagt, dass es dem deutschen Handball an Weltklassespielern im Rückraum fehlt, die mit ihrer Wurfkraft Spiele entscheiden können. Die haben wir immer noch nicht. Könnte das zum Problem in den K.-o.-Begegnungen werden?
Schwalb: Die jetzige Mannschaft zeichnet große Homogenität aus, was auch deshalb ein Vorteil ist, weil sie damit für die Gegner schwerer ausrechenbar bleibt. Dass wir keine herausragenden Rückraumschützen haben, bestreite ich. Der Kieler Steffen Weinhold und der Balinger Martin Strobel haben bislang stets Verantwortung übernommen, wenn es darauf ankam. Die Zeit der Ego-Shooter, die in jedem Spiel mindestens zehn Tore werfen wollen und jede Gelegenheit zum Abschluss nutzen, ist ohnehin vorbei. Insofern sind wir glänzend aufgestellt.
Was trauen Sie der deutschen Mannschaft in Katar noch zu?
Schwalb: Eine deutsche Nationalmannschaft sollte immer den Anspruch haben, das Halbfinale zu erreichen. Diese Qualität hat unser Handball einfach. Natürlich ist es bei der Leistungsdichte in der Weltspitze immer möglich, früher auszuscheiden, andersherum bleibt auch stets Luft nach oben. Das Halbfinale sollte bei allem Respekt vor den nächsten Gegnern machbar sein.
Wer wird denn Weltmeister?
Schwalb: Mannschaften wie Kroatien, Spanien und Frankreich haben in der Vorrunde angedeutet, wie viel Potenzial sie haben, ohne es schon annähernd ausgeschöpft zu haben. Diese drei Teams sind für mich die WM-Favoriten.
An die kampfstarken Ägypter, heute der deutsche Achtelfinalgegner, sollten Sie keine guten Erinnerungen haben.
Schwalb: Nicht nur ich. Wir haben 1996 bei Olympia in Atlanta gegen Ägypten in der Vorrunde 22:24 verloren, dadurch eine mögliche Medaille verpasst. Vier Jahre später in Sydney, da war ich nicht mehr dabei, haben wir in den Gruppenspielen 21:22 gegen sie verloren. Bei der WM 2001 in Frankreich sind sie Vierter geworden. Ägypten hat also Handball-Tradition. Dennoch gehe ich davon aus, dass unser Team mehr Klasse und durch die Bundesliga auch mehr Erfahrung hat, selbst wenn das Publikum unseren Gegner anfeuern wird.
Es gibt doch kaum Zuschauer in diesen riesigen Arenen.
Schwalb: Das ist das Traurige bei dieser WM. Da holen die Katarer die Weltmeisterschaft in ihr Land und schaffen es nicht, ihre tollen Hallen halbwegs zu füllen. Unter sportlichen Aspekten ist diese WM jedoch ideal für die Spieler. Die Hotels sind hervorragend, das Klima sehr angenehm, was die Regeneration fördert, und es gibt keine Reisestrapazen, weil alles im Umkreis von ein paar Kilometern stattfindet.
Die Menschenrechtssituation in Katar bekümmert Sie nicht?
Schwalb: Natürlich ist es höchst unanständig, wenn eines der reichsten Länder der Welt seine Gastarbeiter wie Menschen zweiter Klasse behandelt. Das ist bedrückend und nicht hinzunehmen. In Gesprächen mit Betroffenen haben wir jedoch oft zu hören bekommen, dass es ihnen in ihren Heimatländern noch schlechter ergeht und sie froh sind, in Katar einen Job zu haben. Da bliebe dann immer noch so viel Geld übrig, um ihre Familien zu Hause zu unterstützen. Das macht das Ganze nicht besser, und zeigt mir nur, wie traurig es um diese Welt bestellt ist.
Eine letzte persönliche Frage: Der polnische Nationaltrainer Michael Biegler wird wohl am 8. Februar zum Wiederbeginn der Bundesliga seinen neuen Job beim HSV Hamburg antreten. Sie sollen dann in Polen sein Nachfolger werden.
Schwalb: Dazu sage ich nichts. Mir werden derzeit alle möglichen Aufgaben angedichtet.