Der Präsident des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) im Hamburger Abendblatt über den Reformprozess seiner Organisation und die neue Art der Bewerbungen.
Hamburg. Es war Mahatma Gandhi, der die berühmten Worte sprach: „Sei Du selbst die Veränderung, die Du Dir wünscht für diese Welt.“ Ganz gleich ob kraftvoll wie eine Flutwelle oder nach und nach wie ein Gletscher; Veränderungen sind immer schwierig. Das Schwierigste daran ist zu akzeptieren, dass wir uns verändern müssen, und noch viel schwieriger wird es, wenn es sich um eine Gruppe von über hundert eigenständigen, willensstarken Mitgliedern aus aller Welt handelt, die einen Konsens finden müssen.
Aber die IOC-Mitglieder sind zusammengekommen und waren sich einig – sie wissen, dass die Welt sich verändert hat und dass auch wir uns mit ihr verändern müssen. Sie stimmten ausnahmslos darin überein, die vierzig Empfehlungen der Olympischen Agenda 2020 zu unterstützen, die unsere Organisation und die olympischen Sportarten verändern und sie erfolgreich in die Zukunft führen werden.
Aber warum jetzt? Für mich ist diese Frage leicht zu beantworten. Die Olympische Bewegung war selten stärker. Wir hatten zuletzt erfolgreiche Olympische Spiele. Was internationale Aufmerksamkeit anlangt, wurden alle Rekorde gebrochen. Vor allem über das Internet und die sozialen Netzwerke haben sich junge Menschen den Spielen wieder angenähert. Immer mehr Sportarten wollen ins olympische Programm.
Wir können uns über unsere finanzielle Stabilität freuen, die es uns ermöglicht über 90 Prozent unserer Erträge an den Sport und die Athletinnen und Athleten weiterzugeben – das sind jeden Tag mehr als drei Millionen US-Dollar, für die weltweite Entwicklung des Sports. Dieses Geld ist für viele Sportarten und für viele Länder überlebensnotwendig. So sichern wir die Vielfalt und die Universalität des Sports. Stark und gesund zu sein ist für jede Veränderung hilfreich. Die Welt verändert sich heutzutage schneller als je zuvor. Daher müssen wir das Steuer in der Hand halten, statt auf dem Rücksitz Platz zu nehmen und uns von anderen steuern zu lassen.
Die Welt ist zerbrechlicher, kleinteiliger und individualisierter geworden. Unsere Botschaft von Toleranz, Solidarität, Freundschaft und des Friedens ist heute wichtiger denn je. Aber wenn wir die Relevanz der olympischen Botschaft stärken möchten, müssen die Menschen diese Botschaft auch hören, sie müssen verstehen, welche Ziele wir verfolgen und sie müssen auf unsere Integrität vertrauen. Wir haben die Bedenken der Menschen ernst genommen, wir haben ihre Fragen gehört, die sie in Bezug auf die Organisation und Finanzierbarkeit der Olympischen Spiele haben, aber auch bezüglich unserer Führungsstruktur, unserer Finanzen, unserer Werte und unserer sozialen sowie gesellschaftlichen Verantwortung.
Kurzum; wir haben verstanden, dass die Menschen mehr über unsere Zukunftsfähigkeit, unsere Glaubwürdigkeit und unsere Pläne wissen möchten, die wir verfolgen, um das Interesse junger Menschen an Bewegung und Sport zu wecken. Sie möchten nachvollziehen, wie die Olympische Bewegung und ihre Werte die Welt zu einem noch lebenswerteren Ort machen können.
Wir haben uns im Laufe dieses Jahres mit diesen Bedenken auseinandergesetzt und die nächste Frage in Angriff angenommen. Sie lautet: Was müssen wir verändern, um die angestrebten Fortschritte zu machen? Das IOC ist eine wertebasierte Organisation – deshalb genügte es nicht, sich nur der Veränderung halber zu ändern. Für uns muss Veränderung mehr sein als Kosmetik oder Selbstzweck, Veränderung muss ein Ziel haben. Dieses Ziel lautet Fortschritt. Und Fortschritt bedeutet für uns, die Rolle des Sports in unserer Gesellschaft durch unsere Werte zu stärken.
Unsere einstimmig getroffenen Entscheidungen beinhalten, dass wir eine neue Philosophie beim Bewerbungsverfahren für Olympische Spiele verfolgen, die es den Städten ermöglicht, sich auf ihre jeweils eigenen, oft unterschiedlichen Entwicklungsziele zu konzentrieren. Die Bewerbungen sollen nicht mehr einem einheitlichen Muster gleichen. Wir müssen verstehen, wie die Olympischen Spiele an die sozialen, wirtschaftlichen und sportlichen Interessen einer Stadt oder einer Region angepasst werden können.
Zudem unterstützen wir finanziell die Organisatoren der Olympischen Spiele seit langem. Für Rio de Janeiro stellen wir rund 1,5 Milliarden US-Dollar zur Verfügung. Dieses Geld stammt zu 80 bis 90 Prozent aus den Fernsehrechten, die längst vergeben sind, bevor über die Ausrichterstadt entschieden wird. Im Vergleich zu anderen sportlichen Großveranstaltungen geben wir ein Mehrfaches an das Gastgeberland und an den internationalen Sport – und auch an die Nationalen Olympischen Komitees zurück.
Wir werden Vielfältigkeit bei den Bewerbungen respektieren und fördern, genauso wie wir Vielfältigkeit und das Verbot von jeglicher Form von Diskrimination fest in den Grundprinzipien der Olympischen Charta verankert haben.
Darüber hinaus haben wir auch die Bereiche Good Governance, Transparenz und Ethik gestärkt. Unsere Jahresabschlüsse werden nach den als Maßstab geltenden International Financial Reporting Standards (IFRS) erstellt und geprüft. Wir erfüllen sogar höhere Standards als rechtlich notwendig ist. Wir werden einen jährlichen Aktivitäts- und Finanzbericht vorlegen. Er wird auch die Richtlinien der Aufwandsentschädigung für IOC-Mitglieder enthalten, aus denen hervorgeht, dass die IOC-Mitglieder absolut ehrenamtlich arbeiten und für ihre Arbeit kein Geld bekommen.
Wir verfügen bereits jetzt über eine unabhängige Ethikkommission, jedoch werden wir im Einklang mit den Richtlinien einer verantwortungsvollen Führung vieler großer Unternehmen auch noch einen sogenannten Compliance-Beauftragten schaffen.
Junge Menschen sind unsere Zukunft. Als Sportorganisation dürfen wir uns nicht damit zufrieden geben, wenn immer mehr junge Menschen bei den Olympischen Spielen zuschauen. Denn nur Kinder die selbst Sport treiben, können künftige Athleten werden. Nur Kinder die selbst Sport treiben, lernen die pädagogischen und gesundheitlichen Vorteile sportlicher Betätigung kennen und schätzen. Wir möchten diese Kinder begeistern, indem wir ihnen den Zugang zum Sport erleichtern. Wir möchten mit ihnen in Kontakt kommen, egal wo sie sind.
Wir möchten weltweit mehr Sport in den Lehrplänen der Schulen sehen. Wir haben Veränderungen beschlossen, damit neue, die Jugend ansprechende Sportarten leichter ins Programm der Olympischen Spiele aufgenommen werden können. Des Weiteren freue ich mich sehr über den Beschluss zur Schaffung eines olympischen Fernsehkanals. Wir müssen unseren Athletinnen und Athleten und ihren Sportarten auch zwischen den Olympischen Spielen die weltweite Medienpräsenz geben, die sie verdienen und die sie mit ihren Fans und ihre Fans wiederum mit dem Sport verbindet - 365 Tage im Jahr.
Die von der Olympischen Bewegung verabschiedeten Beschlüsse zielen alle auf Fortschritt ab; Fortschritt bei der Sicherstellung der olympischen Werte und Fortschritt bei der Stärkung der Bedeutung des Sports in der Gesellschaft. Sie sind einzelne Teile eines Puzzles, aber wenn man diese Teile zusammensetzt, ergeben sie ein Bild auf dem der Fortschritt zu erkennen ist.
Und nun beginnt unsere Arbeit. Wir haben uns auf unseren Fahrplan für die Zukunft verständigt. Wir haben Beschlüsse gefasst, die – wie ich glaube – die Olympische Bewegung so verändern werden, dass sie eine neue Generation von Fans und Athleten anspricht. Genauso wie unser Gründervater Pierre de Coubertin sich vor über einem Jahrhundert auf die Reise begab, sind wir die Hoffnungsträger, auf die Athleten weltweit vertrauen, um ihre Träume leben zu können. Die verabschiedeten Vorschläge und Empfehlungen müssen wir nun in Fortschritt verwandeln und durch unser Handeln Einheit in Vielfalt voranbringen. Wir arbeiten an einer besseren Zukunft für die Athleten und die Olympische Bewegung. Genauso wie einst Coubertin werden wir selbst ‘die Veränderung sein’. Zusammen werden wir eine olympische Zukunft für diese großartige und ganz und gar globale Olympische Bewegung schaffen.
Seit 2013 ist Dr. Thomas Bach, 61, Präsident des Internationalen Olympischen Komitees (IOC). Der gebürtige Würzburger wurde 1976 Olympiasieger im Fechten mit der Mannschaft.