Vollkatastrophe für den Gastgeber: Scolaris Mannschaft zerfällt, Neymar wackelt – und nicht mal die Schiedsrichter wollen noch ein Spiel um Platz drei. Könnte Jose Mourinho helfen?
Brasilia/Hamburg. In Deutschland sahen 17,51 Millionen TV-Zuschauer (63,6 Prozent Marktanteil) am Sonnabend den traurigen Abgang der brasilianischen Fußball-Nationalmannschaft um den verletzten Superstar Neymar und den unglücklichen Trainer Luiz Felipe Scolari – und das trotz eines respektablen vierten Platzes bei der WM. Doch das zählt nicht. Jetzt steht nur die Frage im Raum, wie man die gekränkte (Fußball-)Nation wieder aufrichten kann – und natürlich wer neuer Trainer wird.
Den meisten Europäern fällt nur der Name eines Zuchtmeisters ein, der Portugiesisch spricht, mit Stars umgehen kann und eine Mannschaft technisch und taktisch formt: Jose Mourinho. Könnte ihm in einem von Korruption erschütterten Verband eine Wende gelingen? Alles reine Spekulation!
Star-Verteidiger Dani Alves sagte, Brasiliens Mannschaft sei noch nicht reif für einen ausländischen Trainer. Aber reif für eine moderne Spielweise, für einen geordneten Aufbau eines durchdachten Spiels ist sie offenbar auch nicht.
Das 0:3 der Brasilianer im kleinen Finale um Platz 3 gegen die Niederlande war erneut eine Offenbarung der Hilflosigkeit. Gedemütigt und ausgepfiffen schlichen Brasiliens WM-Versager einer ungewissen Zukunft entgegen. „Dass es so zu Ende geht, haben wir nicht verdient. Wir müssen uns beim Volk entschuldigen“, jammerte Kapitän Thiago Silva. Das Team des Rekord-Weltmeisters zerbröselte auf der Zielgeraden wie eine Sandburg an der Copacabana. Ein Umbruch ist nach dem Total-Zerfall mit 1:10-Toren in den letzten zwei Partien unausweichlich, aber der entzauberte Luiz Felipe Scolari sperrt sich noch gegen den Abschied als Nationaltrainer.
Zumindest Neymar schien die Zeichen der Zeit erkannt zu haben. Der verletzte Superstar humpelte nach dem blamablen 0:3 gegen die Niederländer während der Pressekonferenz auf die Bühne und unterbrach Scolaris Verteidigungsrede. Neymar herzte den störrischen Coach, der sich mit ein Küsschen auf die Wange bedankte.
Danach gab Neymar auch dem Technischen Direktor Carlos Alberto Parreira die Hand. Es wirkte wie eine Verabschiedung am Ende des frustrierenden Heimturniers, das ursprünglich den „Hexacampeão“, den sechsten WM-Titel, für den Rekord-Weltmeister bringen sollte.
Vor 68 034 Zuschauern in Brasília geriet der WM-Gastgeber durch einen Elfmetertreffer von Robin van Persie bereits in der 3. Minute in Rückstand. Daley Blind (17.) und Georginio Wijnaldum (90.+1) besorgten mühelos den Rest gegen schwache Brasilianer.
Dabei waren die Schiedsrichter erschreckend schwach. Das Foul an Arjen Robben hätte Rot nach sich ziehen müssen, es geschah aber außerhalb des Strafraumes. Wie schon im ersten Brasilien-Spiel zur WM-Eröffnung häuften sich die falschen Pfiffe.
„Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Es ist ein furchtbares Gefühl“, sagte Mittelfeldspieler Oscar ratlos und vergoss – wieder einmal – ein paar Tränen. Neymar, der vor dem Spiel unter großem Beifall auf der Bank Platz genommen hatte, zog sich sein schwarzes Leibchen über die Augen. Auch er konnte nicht mehr hinsehen.
Mit Leidensmiene verließ Dante das Estádio Nacional. Beim Debakel gegen Deutschland war der Bayern-Innenverteidiger einer der Sündenböcke, diesmal musste er wieder zuschauen. „Ich bin sehr, sehr enttäuscht, sehr traurig wegen des ganzen Turniers. Aber ich habe viel gelernt: Dass man im Fußball immer sehr, sehr konzentriert sein muss“, betonte der 30-Jährige. „Das Spiel gegen Deutschland war sehr schwierig. Ich bin sicher, wenn ich zurückkomme, werde ich stärker sein als vorher.“ Jetzt will er erstmal drei Wochen Urlaub mit der Familie machen.
Dass Scolaris Ansehen nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch bei den Spielern heftig gelitten hat, zeigten Szenen in der Halbzeit und auch während der Partie: Immer wieder diskutierten die Profis heftig miteinander, einmal sprang sogar Neymar auf und redete eindringlich auf Thiago Silva ein.
„Es ist die Entscheidung des Verbandspräsidenten, was mit mir passiert. Ich werde meine Zukunft nicht mit Ihnen diskutieren“, sagte Scolari auf die Frage eines Journalisten. Er wiederholte wie schon die Tage zuvor: „Wir hatten vereinbart, dass wir nach Ende des Wettbewerbs einen Bericht einreichen werden. Unsere Position wird vakant sein, und der Präsident und der Vorstand werden die WM analysieren.“ Scolaris Vertrag endet ohnehin nach dem Turnier, das der Gastgeber nur auf dem enttäuschenden vierten Platz beendet hat.
Der designierte Präsident des Brasilianischen Verbandes (CBF), Marco Polo Del Nero, hatte sich zuletzt für einen Verbleib des Weltmeistertrainers von 2002 ausgesprochen. Nach der Blamage im kleinen Finale sagte Noch-Verbandschef Jose Maria Marin der Zeitung „Folha da São Paulo“, die Situation mit Scolari sei „unhaltbar“. Adenor „Tite“ Bacci (zuletzt Corinthians São Paulo) und U 20-Nationaltrainer Alexandre Gallo gelten als Nachfolgekandidaten.
Die Zeit drängt für den Verband: Am 5. September steht in Miami gegen Kolumbien das nächste Länderspiel an, 2015 die Copa América und 2016 in Rio de Janeiro das olympische Fußball-Turnier. Ein Umbruch scheint unumgänglich, Routiniers wie Torwart Júlio Cesar, Dante, Dani Alves und Dante haben wohl keine Zukunft in der Seleção. Die neuen Führungsfiguren sollen Abwehrspieler David Luiz und vor allem Neymar sein.
„Wir haben den europäischen Fußball kopiert, weil wir keine Spieler mit Qualität haben“, sagte Denilson, der Weltmeister von 2002, der Nachrichtenagentur dpa. „Der einzige Spieler mit Qualität und Dribbelkünsten ist Neymar. Mehr haben wir nicht. Die anderen sind Spieler, die den Ball erobern und Neymar suchen.“
„O Globo“ ging sogar so weit zu schreiben: „Eine WM der Negativ-Rekorde für Brasilien.“ Die portugiesische Zeitung „Público“ dichtete: „Die WM geht zu Ende, und das ist die beste Nachricht für Brasilien.“
Unterdessen feierte der niederländische Trainer Loius van Gaal seinen Abschied. Mit verdächtigem Glitzern in den Augen schwärmte der oft so knurrige Bondscoach nach dem Bronzegewinn bei der über seine Verbindung zum Team um Arjen Robben & Co. „Ich denke, dass sie immer einen Platz in meinem Herzen haben werden“, beteuerte der 62-Jährige, der zu Manchester United wechselt.
Wie sein Coach schimpfte Robben trotz des erfolgreichen Abschlusses über das Duell der Verlierer in Brasília: „Von mir aus könnten sie es abschaffen, ich denke, es geht der Fifa dabei um kommerzielle Dinge.“ Zu tief saß der Frust immer noch über das verlorene Elfmeterschießen gegen Argentinien im Halbfinale: „Hiermit haben wir den Kater ein wenig weggespült, aber die Enttäuschung überwiegt weiter. Wenn wir das Turnier dann heute so abschließen, da bin ich aber ganz stolz auf meine Jungs.“
Sogar die Schiedsrichter fremdeln offenbar mit dem Spiel um Platz drei. Urs Meier gab im ZDF zu, dass er es auch gehasst habe. Kein Mensch brauche zum Abschluss einer WM ein Duell der Verlierer.