Urwüchsiger Bayer, Fußball-Anarchist und Torschütze vom Dienst: Thomas Müller ist ein Spieler wie kein anderer. Der Deutsche Nationalstürmer ist bislang der Mann der WM.
Salvador/Santo André. Irgendwann wurde es sogar Thomas Müller ein bisschen zu viel. Direkt nach dem denkwürdigen 4:0 gegen Portugal am Montagnachmittag posierte der Dreifachtorschütze zunächst mit der Kanzlerin in der Kabine, musste dann als „Mann des Spiels“ in die Pressekonferenz und schlenderte anschließend auch noch auskunftsfreudig an den Medienvertretern in den Katakomben vorbei. Ob er denn nicht gerade in der Pressekonferenz gewesen sei, fragte ihn ein verwundeter Journalist. „Doch“, antwortete der Spaßvogel grinsend, „aber euch habe ich dort vermisst.“
Als dann alle Fragen gestellt und alle Antworten gegeben waren, suchte Müller erstmals an diesem für ihn so besonderen Tag seine Ruhe. 20 Meter vom Mannschaftsbus entfernt setzte er sich auf eine Mauer, alleine, und ließ kurz die sich so rasant drehende Welt um ihn herum Welt sein.
Dass nur Sekunden später ein Foto des nachdenklichen Müller via Facebook um ebendiese Welt ging, dürfte wohl nicht einmal Müller überrascht haben.
Thomas Müller, Urbayer, geboren in Weilheim in Oberbayern, ist schon jetzt der Liebling der ganzen Nation. FC-Bayern-Profi mit 18 Jahren, bester WM-Nachwuchsspieler und sogar WM-Torschützenkönig mit 20 Jahren. Mit Bayern hat er nach der WM in Südafrika so ziemlich alles abgeräumt, was da abzuräumen war. Ein Champions-League-Finale hat er gewonnen, eines hat er unter dramatischen Umständen verloren.
Und jetzt, mit gerade mal 24 Jahren, ist er auf bestem Wege, als erster Fußballer überhaupt zum zweiten Mal in Folge WM-Torschützenkönig zu werden. „Ich bin mir bewusst, was eine WM für den ganzen Globus bedeutet“, hatte Müller die „Frankfurter Rundschau“ bereits vor der Weltmeisterschaft in Brasilien wissen lassen, „es geht ja um viel mehr als nur ein schnödes Fußballergebnis, und es wird Momente geben, die unter die Haut gehen.“
Diese Momente waren am Montag gekommen. Überlegt hatte er einen Strafstoß verwandelt. Gedankenschnell Gegenspieler Bruno Alves den Ball vor seinem zweiten Tor abgeluchst. Und intuitiv zum 4:0 vollstreckt. „2010 habe ich wie in einer Kapsel gesessen und gar nicht so mitbekommen, was mit mir eigentlich passiert ist. Jetzt sehe ich mich mehr in der Verantwortung“, hatte der Bewegstürmer (Müller über Müller) vor dem Auftaktspiel gegen Portugal angekündigt. Und Wort gehalten.
Müller ist längst nicht mehr nur Fußballspieler. Er ist eine Marke. Sein Nachname steht in Deutschland seit „kleines, dickes Gerd“ für Qualität. Und auch mit „großes, dünnes Thomas“ kann man in der Heimat so ziemlich alles verkaufen. Der Sympathieträger wirbt für Joghurt, Nassrasierer, Mini-Salami und einen Kugelgrill. Auch ein deutscher Autohersteller hat Menschenfänger Müller als Werbebotschafter verpflichtet. Gemeinsam mit Neymar.
Im Gegensatz zu Brasiliens Weltstar, der längst als Kunstprodukt daherkommt, hat es Müller aber irgendwie geschafft, der spiddelige Thomas aus Oberbayern zu bleiben. „Egal ob er Weltmeister wird oder noch mal die Champions League gewinnt – er wird niemals abheben“, sagt Thomas Oppenheimer, der Eishockeyprofi der Hamburg Freezers, der seit der Schulzeit bester Freund Müllers ist.
Oppenheimer wohnte in Peißenberg, Müller im 20 Minuten entfernten Pähl. „Ich habe nur zwei echte Freunde“, hat Thomas Müller mal in einem Abendblatt-Interview über Freundschaften offenbart, „Thomas und Tobias. Beide kenne ich schon seit Ewigkeiten.“ Auch mit seinen Mannschaftskollegen beim FC Bayern und in der Nationalmannschaft verstehe er sich super, aber echte Freunde habe er im Zirkus Profifußball nicht. „Wir verbringen viel Zeit miteinander, und eigentlich verstehen wir uns auch sehr gut. Aber trotzdem sind wir in erster Linie nur Arbeitskollegen, keine echten Freunde.“ Vom abgedroschen Spruch „Elf Freunde müsst ihr sein“ hält er folglich wenig: „Es können sich bestimmt über die Jahre Freundschaften entwickeln, aber ich schätze mal, dass man mit den meisten Spielern nach der Karriere relativ selten Kontakt hat.“
Müller sagt, was er denkt. Und schon das reicht, um in der unwirklichen Fußballwelt von heute ein wenig herauszustechen. Es sind keine hochtrabenden Weisheiten, die der Münchner zum Besten gibt. Aber es ist diese Schlagfertigkeit, die ihn auch auf dem Platz auszeichnet. Müller ist kein Techniker wie Mesut Özil, er kann auch keine Pässe spielen wie Toni Kroos. Aber der Fußball-Anarchist kann Räume erkennen, die nicht einmal diese modernen, neuen Kameras erfassen können.
Er selbst hat sich deswegen einmal als „Raumdeuter“ bezeichnet. „Thomas bewegt sich immer sehr geschickt in die Tiefe“, sagt Mannschaftskollege Jérôme Boateng, der im täglichen Training die unangenehme Aufgabe hat, Müller zu verteidigen. „Als Gegenspieler ist es ganz schwer gegen Thomas. Er ist nicht zu greifen. Er ist auch so dünn, da weiß man nicht, wo der Muskel anfängt und wo er aufhört.“
Wochenlang wurde vor der WM die Frage diskutiert, warum ausgerechnet Deutschland, das Land der Seelers, Völlers, Fischers und eben Müllers, in Brasilien auf eine echte „Nummer neun“ verzichtet. Dabei scheint die Antwort doch so einfach: weil Deutschland Müller hat, Thomas Müller. „Thomas ist kein falsche Neun. Er ist die wilde 13“, beendete ARD-Experte Mehmet Scholl alle Sturmdiskussionen nach dem Sieg gegen Portugal ein für alle Mal, „Müller ist genial, torgefährlich, unorthodox, Weltklasse“.
Das hat mittlerweile sogar Diego Maradona mitbekommen. Der Weltstar hatte sich nach dem Länderspiel seiner Argentinier gegen Deutschland im März 2010 in München nicht neben Thomas Müller auf das Podium bei der Pressekonferenz setzen wollen. Wer denn dieser hagere Bursche mit Trainingsanzug sei, soll der damalige Nationaltrainer Argentiniens entnervt gefragt haben. Vier Monate später war dieser schlaksige Jüngling WM-Torschützenkönig – und vier Jahre später könnte er es tatsächlich erneut schaffen. Und Maradona sagte am Dienstag voller Anerkennung: „Er hat keine Muskeln, hat heute aber die Partie allein gerissen“, bekannte der einstige Weltklasse-Zehner, der den Münchner als „El Flaco“, den Dürren, bezeichnete.
Die deutsche Fußballgala hat bei ihm ohnehin tiefen Eindruck hinterlassen. „Heute haben wir ein vernichtendes Deutschland gesehen, ein Deutschland, das die Perfektion streifte“, urteilte der Weltmeister von 1986 in seiner TV-Sendung „De Zurda“. „Sie machen einem Angst wegen ihrer physischen Kraft“, ergänzte der 53-Jährige, der bei der WM 2010 als Nationaltrainer Argentiniens im Viertelfinale an Deutschland (0:4) gescheitert war. Bei diesem Satz dachte er aber vielleicht nicht nur an den dürren Müller.