Erstmals findet in Hamburg die deutsche Pétanque-Meisterschaft in der Königsdisziplin Triplette statt. Trainingsbesuch bei einer Sportart, in der auch für Bier und Zigarette Platz ist.
Hamburg. Sich umzuziehen, dazu hatte Denis Buro diesmal keine Zeit: „Nachher schimpft unser Mannschaftskapitän noch, weil ich zu spät komme.“ Der Gebäudereiniger ist direkt von der Schicht in die Rugbyarena an der Saarlandstraße gekommen, gerade rechtzeitig zum Trainingsbeginn. Typen wie ihn, breite Schultern, breiter Nacken, grimmiger Gesichtsausdruck, darf man an diesem Ort erwarten. Nur dass Buro den Rasen nie betreten würde. Mit seinen schweren Arbeitsschuhen hat er sich in den Kreis gestellt, den seine Mitspieler in die Erde am Spielfeldrand gezeichnet haben, lässt den gestreckten Arm nach oben schwingen und eine Kugel in hohem Bogen auf eine andere, acht Meter entfernte Kugel krachen. Und dann noch eine. Und noch eine.
„Hätte ich mal bei den Nordmeisterschaften auch so getroffen!“, stöhnt Buro. Dann könnte er vielleicht an diesem Wochenende bei den deutschen Pétanque-Meisterschaften starten, die zum ersten Mal überhaupt in seiner Heimatstadt ausgetragen werden. 44 Frauen und 340 Männer haben sich für die Titelkämpfe in der Königsdisziplin Triplette (drei gegen drei) qualifiziert, gespielt wird ganztägig auf zwei Flächen der Internationalen Gartenschau (igs) in Wilhelmsburg.
Der Hamburger Rugby-Club (HRC) ist mit einem Team vertreten. „Es ist schön, dass wir uns einmal zu Hause zeigen dürfen“, sagt Dawid Gietkowski. Er war 16 Jahre alt und spielte im Stadtpark Fußball, als er auf eine Gruppe Boulespieler aufmerksam wurde. Seither lassen ihn die Kugeln nicht mehr los und er sie nicht. Er sagt: „Es infiziert richtig, vor allem wenn man schnell gut wird.“ Und Gietkowski, inzwischen 21, wurde schnell so gut, dass er den Fußball längst aufgegeben hat. Aber vom Ballgefühl zehrt er auch bei seiner neuen Leidenschaft noch.
„Taktile Intelligenz“ nennt HRC-Lizenztrainer Martin Koch die Voraussetzungen, die ein guter Boulespieler braucht. Den Wirtschaftsjournalisten hat das französische Spiel so fasziniert, dass er darüber ein Buch schrieb. Er sagt: „Man muss schon eine hohe Wahrnehmungskraft für Raum und Ballverhalten mitbringen.“ Zumal die Bedingungen jedes Mal andere sind. Im Unterschied etwa zum italienischen Boccia kann man Pétanque überall spielen. Je schwieriger der Untergrund, desto besser. „Man spielt Pétanque nicht auf einem Boden“, sagt Koch, „man spielt es mit einem Boden.“
Die thailändische Armee verordnet ihren Soldaten Pétanque, um die Konzentration zu fördern. Aber auch Ausdauer ist gefragt. An einem Turniertag können sechs, sieben Spiele zusammenkommen, von denen jedes Einzelne im Triplette rund eineinhalb Stunden dauert. „Mit einem Zwölfstundentag muss man schon rechnen“, sagt Gietkowskis Mitspieler Tarek Iben Lahouel, „da musst du vor allem im Kopf fit bleiben.“ Aber die Anstrengung nehme man ja gern in Kauf, genau wie die langen Reisen zu Turnieren, die meist irgendwo im Saarland oder in Baden-Württemberg gespielt werden. Nur das Zelten bei Turnieren hat sich Iben Lahouel abgewöhnt, der 42-Jährige leistet sich inzwischen ein Hotel. „Sonst ist man hinterher völlig kaputt.“
Das würde auch dem Geist des Pétanque widersprechen. Mit Kraft lässt sich in diesem Spiel nichts gewinnen. Da die Kugeln ohne Anlauf geworfen werden, sind die körperlichen Voraussetzungen praktisch unerheblich. Eine Altersbeschränkung gibt es deshalb auch nicht. Auch die Geschlechtergrenzen sind zumindest in Deutschland aufgehoben. In der Bundesliga muss jede Mannschaft sogar mindestens eine Frau im Team haben. Und für behinderte Menschen ist der Sport praktisch barrierefrei zugänglich. Hector Milesi, einer der besten Spieler Frankreichs und mithin der Welt, sitzt im Rollstuhl. „Eigentlich“, sagt Félix Irurozqui, „sind wir der ideale Inklusionssport.“
Der Hamburger Rugby-Club betreibt eine eigene Boulehalle
Irurozqui, 60, hat beim HRC lange Zeit Rugby gespielt. Vor 13 Jahren gründete der Franzose die Pétanque-Abteilung des Vereins. Er sagt: „Ich spreche jeden an, der im Park spielt, ob er nicht in den Verein kommen will.“ Kürzlich hat sich auch HRC-Präsident Heinz-Peter Jungblut davon überzeugen lassen, es einmal mit den kleinen Kugeln zu versuchen. Vielleicht liegt es an der entspannten Atmosphäre, die diese multikulturelle Trainingsgruppe verströmt. Es wird viel gefeixt an diesem Dienstagnachmittag im Stadtpark. Zigarette und Bierflasche dürfen auch gern dabei sein. Und hinterher wird noch gemeinsam gegrillt und der Livemusik gelauscht, die von der Freilichtbühne hinter den Bäumen herüberklingt. Das verbindet die HRC-Spieler mit den Freizeitboulern, die ein paar Hundert Meter weiter am Südring eine etwas ruhigere Kugel schieben.
Aber deswegen soll niemand denken, dass Pétanque kein ernsthafter Sport ist. Die Bundesligamannschaft des HRC trainiert fast täglich, im Winter in einer städtischen Halle an der Langenhorner Chaussee. Etwa 1000 Arbeitsstunden und viel Spendengeld haben die HRC-Mitglieder investiert, um sie herzurichten, auch für die Energiekosten muss der Verein selbst aufkommen. Mit Preisgeldern können die Bouler allenfalls ein Teil ihrer Ausgaben wieder einspielen.
Vom Pétanque leben kann man selbst in Frankreich nicht, wo Boule Nationalsport ist, Weltmeisterschaften live übertragen werden und im vergangenen Jahr in Marseille 5000 Zuschauer zu den Spielen der Männer-WM pilgerten. Einige Elitespieler verdienen sich mit eigenen Textilkollektionen etwas hinzu. Deutsche gehören nicht zu dieser Elite, Hamburger schon gar nicht. Zu übermächtig ist schon auf nationaler Ebene die Konkurrenz aus dem Südwesten der Republik, in dem Boule eine längere Tradition hat.
Deswegen machen sich Gietkowski, Iben Lahouel und ihr dritter Mann Dadine Sidlazara für das Wochenende auch keine allzu großen Hoffnungen. Die Vorrunde zu überstehen wäre für die Nordmeister schon ein Erfolg. „Dass wir einmal nicht im Hotel übernachten müssen“, sagt der Tunesier Iben Lahouel, „ist schon ein echter Luxus für uns.“