Sieben Mal gewann Lance Armstrong die Tour de France, nun erkennt die UCI dem Ex-Profi alle Titel ab. Profitiert ausgerechnet Jan Ullrich?
Genf/Berlin. Pat McQuaid kann sich noch gut an den Beginn seiner Präsidentschaft im affärenumtosten Radsport-Weltverband UCI erinnern. 2005 war das, und der Job schien schon damals nicht gerade vergnügungssteuerpflichtig. Der Ire war just im Amt, als er nach der Schlussetappe der Spanien-Rundfahrt zu einem Abendessen reiste. Mit Wonne ehrte McQuaid dort den Sieger Roberto Heras vom famosen Liberty-Seguros-Rennstall - um eine Woche später die Nachricht zu vernehmen, Heras sei positiv auf das Blutdopingmittel Epo gestestet worden.
"Ich hatte sieben ziemlich entsetzliche Jahre als Präsident", sprach McQuaid Montagmittag im Hotel Starling in Genf in die Mikrofone und zählte die prominentesten Dopingfälle im Radsport seit 2005 auf (was eine Weile in Anspruch nahm): "Aber ich bin immer noch optimistisch, dass sich die Dinge im Peloton verändert haben."
Den größten, den alles überstrahlenden Namen hatte die UCI wenige Minuten zuvor offiziell aus den Siegerlisten getilgt und seinen Träger lebenslang gesperrt: Lance Armstrong, 41, zwischen 1999 und 2005 jedes Jahr Erstplatzierter der Tour de France, ist ab sofort nicht mehr siebenmaliger Sieger des bedeutendsten Etappenrennens der Welt. Er ist ein Nichts - weil der Weltverband den Sanktionen der US-Antidopingagentur Usada folgte. "Lance Armstrong hat keinen Platz mehr im Radsport. Er hat es verdient, vergessen zu werden", sagte McQuaid.
Die Aberkennung all seiner Titel, die ihn zu einem Mythos weit über den Radsport hinaus gemacht haben, ist der vorläufige Tiefpunkt in der exponierten Athletenkarriere des Texaners. Zu Fall gebracht hat ihn die Usada mit ihrer Hartnäckigkeit und ihrem mutigen Chef Travis T. Tygart, der sogar Morddrohungen erhielt. Nach dem Studium der Ermittlungsakten ist nicht einmal die ihre Stars sonst nach Kräften protegierende Union Cycliste Internationale umhingekommen, Armstrong aus der Radsportfamilie zu verstoßen.
Dabei bleiben viele Fragen offen. Die naheliegende, wer denn Armstrongs sieben Siege erbt, soll am Freitag entschieden werden. Die Tour-Organisation wünscht sich, dass die Siegerliste weiß bleibt. Sollten aber tatsächlich die Tour-Zweitplatzierten der Jahre 1999 bis 2005 nachträglich zu Siegern erklärt werden, wäre der derzeit gesperrte Jan Ullrich dreimaliger Sieger der Frankreich-Rundfahrt, Andreas Klöden erhielte den Titel von 2004. Ullrich möchte sich allerdings nicht "mit fremden Federn schmücken". Er sagte: "Lance war in jenen Jahren besser als ich."
Unklar bleibt auch die Rolle des Weltverbands in der Zeit der Doping-Hochkultur. UCI-Präsident McQuaid widersprach vehement einer Mitverantwortung oder gar Mittäterschaft seines Verbandes, auch unter seinem dubiosen Vorgänger Hein Verbruggen. Dennoch wirkt es fast putzig, wenn er etwa in Armstrongs Spende an den Verband von weit mehr als 100 000 US-Dollar vor rund zehn Jahren nichts Anrüchiges erkennen mag.
Wie es um die Nähe bestellt gewesen ist, illustriert eine Aussage des früheren Armstrong-Helfers Tyler Hamilton, 41. Hamilton berichtete der Usada von einem Telefongespräch, das der Fahrer Floyd Landis am 10. Juni 2004 belauscht hatte. Hamilton war an jenem Tag im Trikot des Armstrong-Konkurrenzteams Phonak bei der Dauphine Libere am Mont Ventoux Zweiter hinter dem Spanier Iban Mayo geworden, woraufhin Armstrong außer sich vor Wut den damaligen UCI-Boss Hein Verbruggen angerufen haben soll. Sinngemäß habe Armstrong gefordert: "Ihr müsst diese Kerle erwischen, die sind nicht normal!" Kurz nach dieser Etappe erhielt Hamilton nach eigenen Angaben Post von der UCI mit einer Vorwarnung: Es seien bei ihm "abnormale Blutprofile" festgestellt worden. Man werde ihn im Auge behalten.
Auch Jörg Jaksche, 36, hat seine ganz speziellen Erfahrungen gemacht mit dem Radsport-Weltverband. Nachdem der deutsche Profi Anfang Juli 2007 seine Karriere als Doper via "Spiegel" minutiös offenbart und der österreichische Verband als Lizenzgeber ihn für ein Jahr gesperrt hatte, legte die UCI Einspruch ein und lud Jaksche in die Zentrale nach Aigle. Hören mochten sie dort allerdings nicht alles und vor allen Dingen nicht tiefer graben, so kam es Jaksche vor. "Ich glaube, dass die Konsequenz daraus, mich mundtot zu machen und sich einen Einzelnen herauszupicken als Schuldigen, für die UCI deutlich weniger aufwendig war, als gegen Ärzte, Teamverantwortliche und Funktionäre vorzugehen", sagte Jaksche der "Welt". Die Entscheidung zu dopen hätten all jene, die es unter Armstrong getan haben, nicht treffen müssen, sagt er: "Jeder hat ein Gehirn. Aber jeder hat auch ein Bankkonto."
Pat McQuaid unterdessen will die Nähe zu den Stars der Szene auch weiterhin suchen, denn: "Wenn du Stars hast in einem Sport, dann nutzt du sie, um den Sport zu promoten. Wenn einer sich dann als Betrüger herausstellt, ist das sehr traurig, sehr enttäuschend."
Immerhin eines versuchte McQuaid in seinen von Trotz durchmischten Statements ("Ich habe nicht die Absicht, als UCI-Präsident zurückzutreten") nicht zu kaschieren: dass der Straßenradsport unter den Nachwirkungen einer zweifelsfrei vorhandenen Dopingmentalität ächzt. Heute, glaubt der Ire beobachtet zu haben, hätten die Fahrer grundsätzlich eine gänzlich andere Einstellung als seinerzeit in der Armstrong-Ära.
McQuaid wähnt den Profiradsport auf einem guten Wege und warb um Unterstützung für einen "Prozess, der noch nicht abgeschlossen ist. Der Radsport hat viele Fortschritte gemacht." Es sei ein schmerzhafter Prozess.
McQuaid und sein Verband glauben tatsächlich: "Eine solche ausgeklügelte Dopingszene wie damals gibt es heute nicht mehr." 7,5 Millionen Euro pro Jahr gebe die UCI für Antidopingmaßnahmen aus. Aber allein mit dem Willen zu einer nachhaltigen Antidopingpolitik wäre bereits viel gewonnen.