Bei ukrainischem Fußball fällt den meisten Fans weltweit ein Name ein: Andrej Schewtschenko. Ob er bei der EM dabei sein kann, ist aber fraglich.

Kiew/Köln. Vielleicht kommt die EM im eigenen Land für Ukraines größten Fußballer aller Zeiten gerade noch rechtzeitig. Andrej Schewtschenko befindet sich auf der Zielgerade seiner Karriere, und der 35-Jährige hätte sie vielleicht längst beendet, wenn er nicht dieses große Ziel vor Augen hätte. Eine EM-Endrunde in der Heimat, einen schönen Abschluss könnte es für Europas Fußballer des Jahres 2004 nicht geben.

Doch der Rücken schmerzt, die 17 Jahre Profifußball haben ihre Spuren hinterlassen und seinen guten Ruf will sich Schewtschenko nicht kaputtmachen. Deshalb zaudert er selbst noch, ist unsicher, ob er es überhaupt noch schafft und sich das antun soll.

Einen Schatten seiner selbst wird er sich und den Fans nicht offerieren, so viel ist dem stolzen Ukrainer klar, für den der AC Mailand 1999 23 Millionen Euro zahlte und der FC Chelsea fünf Jahre später sogar 51 Millionen. «Ich werde nur spielen, wenn ich bereit dazu bin», sagt er deshalb: «Wenn ich körperliche Probleme habe und den hohen Anforderungen nicht mehr gerecht werden kann, werde ich nicht auf dem Platz stehen. Ich will mich und meine Mannschaft nicht blamieren.»

Doch den Superstar für das Turnier fitzumachen und bei Laune zu halten, ist inzwischen fast schon eine Angelegenheit von nationalem Interesse. «Er ist ein Symbol für die Nationalmannschaft. Ein EM-Team ohne Andrej Schewtschenko ist unvorstellbar», sagt der langjährige Bundesliga-Profi Andrej Woronin. Nationaltrainer Oleg Blochin stellt ebenfalls klar, dass er das Fan-Idol um jeden Preis einsetzen will - und zwar unabhängig von seiner Leistung. «Andrej ist nicht irgendein Fußballspieler», sagt er: «Er ist auch ein Mensch von ungeheurer und unbestreitbarer Autorität, und unser Team braucht ihn.»

Blochins Trainerkollege Juri Semin fühlt sich dem nationalen Interesse verpflichtet und stellt dafür sogar die eigenen Belange zurück. Er setzt Schewtschenko vorrangig nur noch beim Heimspielen ein, um kein unnötiges Belastungsrisiko einzugehen. «Wir versuchen, ihm zu helfen, damit er bei der EURO in Bestform auflaufen kann», sagt Semin.

Mehr Länderspiele als Schewtschenko hat derweil nur ein Spieler bestritten, nämlich der Münchner Anatolij Timoschtschuk. «Wir haben eine junge Mannschaft. Und wir wollen Europa zeigen, dass wir auch eine gute Mannschaft haben», sagt der Bayern-Profi. Auch für den bei der Endrunde schon 33 Jahre alten Mittelfeldspieler ist die EM in der Heimat wohl die letzte Chance, auf großer Bühne mit der Nationalmannschaft zu glänzen.

Zumal die Ukraine alles andere als ein Stammgast bei Endrunden war. Nur bei der WM 2006 in Deutschland war sie dabei, damals spielte sie sich sogar bis ins Viertelfinale gegen den späteren Titelträger Italien (0:3) vor.

Nun ermöglicht das Gastgeberticket den Ukrainern also die erste EM-Teilnahme. Und auf diesen Heimvorteil setzen sie auch. Beim 3:3 gegen Deutschland kürzlich sah man in der ersten Halbzeit gegen die allerdings in der Abwehr experimentierende DFB-Elf, zu welchem Sturmlauf die Ukrainer mit der frenetischen Unterstützung der Fans fähig sind.

Als Glücksbringer fungiert derweil auch Lwiw, wo die Gastgeber zuletzt sieben Spiele in Folge gewannen und auch in der Vorrunde antreten werden. Das 2:1 zuletzt gegen Österreich schoss das Blochin-Team sogar in Unterzahl in der Nachspielzeit heraus. «Der Schallpegel hat das Team nach vorne getrieben», sagt Blochin.

Betrachtet man die reine Qualität, wäre schon ein Viertelfinal-Einzug der Gastgeber eine Überraschung. Doch die großen Trümpfe - Schewtschenko, der Heimvorteil und die fanatischen Fans - lassen Träume wachsen.

(sid/abendblatt.de)