Zu lange hat sich Italien an den Weltmeistern von 2006 festgehalten - als man es merkte, war es zu spät. Nun orientiert sich das Land neu.

ROM/KÖLN,. In Italien werden derzeit viele alte Zöpfe abgeschnitten - nicht nur politisch. Auch Roberto Baggio, viele Jahre die Ikone des azurblauen Fußballs, trägt das ergraute Haar längst schnittig; kaum zu glauben, dass sein letztes Länderspiel schon sieben Jahre her ist. Dann 2006, die WM, Finale, Berlin, die Stirn von Zinedine Zidane, die Brust von Marco Materazzi, die Hände von Gianluigi Buffon; alles weit, weit weg.

Italien orientiert sich neu. Auch im Fußball. Die alten WM-Helden, Camoranesi, Totti und wie sie alle heißen, sind in Ehren verabschiedet worden, man hatte sich sowieso noch zu lange an ihnen festgehalten. Das WM-Debakel mit dem Vorrundenaus ohne Sieg war die Quittung.

«Ich werde nur noch Spieler nominieren, die es verdienen», sagte der neue «Allenatore» Cesare Prandelli bei seiner Vorstellung - ein Schlag ins Gesicht für den Vorgänger und Weltmeistertrainer Marcello Lippi, der mit einer überalterten und satten Mannschaft in Südafrika sein Denkmal schwer beschädigt hat. Der WM-Titel als Hemmschuh.

In Polen und der Ukraine soll sich zeigen, wie es um den italienischen Fußball derzeit bestellt ist. «Mit Entschlossenheit und großer Demut» will Prandelli Italien den zweiten EM-Titel nach 1968 bescheren. Damals war die EM noch ein Vier-Nationen-Turnier - und die Squadra Azzurra hatte Weltklassespieler im Überfluss: Riva, Rivera, Mazzola, Facchetti, Burgnich, Zoff. Derzeit hat sie keinen.

Gianluigi Buffon, ein «Überbleibsel» von 2006, war zumindest einmal einer. Der viermalige Welttorhüter des Jahres ist 33 Jahre alt und könnte in den kommenden Jahren den Weltmeister-Kapitän Fabio Cannavaro (136 Länderspiele) als Rekordnationalspieler ablösen. «Ich hoffe, dass die Karriere noch lange weitergeht - mein Alter gibt mir Hoffnung», sagte Buffon. Sein «Idol» Dino Zoff, den «echten Maestro» (Buffon), hat er bereits eingeholt.

Ansonsten arbeitet Nationaltrainer Prandelli, der als Spieler (Fast) alles und als Trainer noch nichts gewonnen hat, mit vielen talentierten Spielern, die allerdings international noch auf ihren Durchbruch warten. Prandelli tüftelt, probiert vieles aus, setzte 35 Spieler in den EM-Qualifikationsspielen ein.

Das Ergebnis ist eine relativ harmonische, für italienische Verhältnisse erstaunlich torgefährliche Mannschaft ohne die ganz großen Einzelkönner. Mit Serbien, Slowenien, Estland, Nordirland und den Färöern gab es keine Probleme, 20 Tore erzielten die Azzurri bei acht Siegen in zehn Quali-Spielen (zwei Unentschieden).

Einen schweren Schlag aber musste die Nationalmannschaft hinnehmen: Antonio Cassano, mit sechs Toren bester italienischer Schütze und die Nummer drei bei den Einsatzminuten (758), brach im Flugzeug zusammen und musste am Herzen operiert werden. Er wird an der EM-Endrunde wahrscheinlich nicht teilnehmen können.

Nun muss Italien einen neuen Torgaranten suchen. Ein Deutscher zeigt dem viermaligen Weltmeister ja Woche für Woche, wie es geht. Langer Ball, langes Bein, kurzer Prozess - Miroslav Klose, der bei Lazio Rom am Fließband trifft.

Da kann es Italien auch verschmerzen, dass der zurückgetretene Staatspräsident Silvio Berlusconi sich beim AC Mailand wieder mehr in den Fußball einmischen will. Manche Zöpfe, die man abgeschnitten glaubt, wird man eben doch nicht so leicht los. Das gilt ebenso für Roberto Baggio - den derzeitigen Technischen Direktor des nationalen Fußball-Verbandes FIGC. (sid/abendblatt.de)