Sportgespräch mit Hockey-Nationalspielerin Natascha Keller über Olympia 2012, ihre sportliche Familie und den Vergleich mit Birgit Prinz

Berlin. Am kommenden Mittwoch treffen sich 18 deutsche Hockey-Nationalspielerinnen in Mönchengladbach, wo am Sonnabend die Europameisterschaft beginnt. Bundestrainer Michael Behrmann hat seinem Team zehn Tage freigegeben, um vor Turnierstart noch einmal auf andere Gedanken zu kommen. Während der Großteil Urlaub macht, verbringt Natascha Keller, 34, die Zeit an ihrem Arbeitsplatz bei der Sportmarketing-Agentur M.A.X. 2001 in Charlottenburg, wo sie im Marketing und Vertrieb tätig ist. Die Rekordnationalspielerin vom Berliner HC verwendet so viel Zeit auf ihren Sport, dass sie die sportfreien Tage nutzt, um Fehlzeiten zu minimieren. "Aber das macht mir nichts aus, es ist eine schöne Abwechslung", sagt sie.

Hamburger Abendblatt:

Frau Keller, Sie haben 392 Länderspiele absolviert. Welchen Stellenwert hat Ihre sechste Europameisterschaft?

Natascha Keller:

Für mich persönlich kommt diese EM gleich nach Olympischen Spielen und Weltmeisterschaften. Ich habe 1999 in Köln bereits eine Heim-EM erlebt, und so etwas ist immer ein besonderes Gefühl. Ich freue mich sehr auf das Turnier. Für die Mannschaft ist die EM extrem wichtig, weil wir uns für Olympia 2012 in London qualifizieren wollen. Neben England gibt es zwei feste Startplätze. Das wird schwierig.

Sie treffen in der Vorrunde auf Irland, England und Belgien. Die Britinnen dürften Favorit sein, aber Irland und Belgien müssen Sie schlagen. Ist das machbar?

Keller:

Natürlich, aber beide Teams sind unberechenbar. Gerade die Belgierinnen haben sich sehr gut entwickelt in den vergangenen Monaten, und gegen Irland haben wir uns auch schon oft schwergetan. Es gibt in unserer Gruppe keinen Außenseiter und keinen Favoriten, denn wir haben auch gegen England gut ausgesehen, obwohl wir zuletzt siebenmal verloren haben. Wir haben das Potenzial, alle Teams zu schlagen, aber wir können im Gegenzug auch gegen jeden verlieren.

Den deutschen Damen haftet der Ruf an, eine Wundertüte zu sein. Wie ist Ihr Eindruck vom aktuellen Team?

Keller:

Ich denke, dass wir nicht mehr die Wundertüte vergangener Jahre sind, aber wir sind sehr wohl unberechenbar. Gerade gegen Topteams wie England oder die Niederlande halten wir sehr gut mit, dafür tun wir uns gegen vermeintliche Underdogs schwer. Ich hoffe sehr, dass der Heimvorteil einen kleinen Ausschlag zu unseren Gunsten gibt.

Was hat sich verändert, seit Sie 1995 Ihre erste EM gespielt haben?

Keller:

Eigentlich nicht viel. Die Niederlande sind als Konstante immer an der Spitze dabei, dahinter kommen England und wir, und dann eine Menge Teams, die mal oben und mal unten sind. Das Spiel ist durch einige Regeländerungen wie das Interchanging und das Abschaffen des Abseits schneller geworden, und sicherlich auch athletischer. Früher hatten wir einen Athletiktrainer, heute haben wir drei.

Haben Sie auch das Gefühl, dass Deutschland immer härter arbeiten muss, um seinen Stellenwert zu halten, weil die anderen Nationen aufholen?

Keller:

Diese Diskussion gibt es schon, seit ich dabei bin. Und doch sind wir seit 25 Jahren konstant in der Weltspitze dabei. Deshalb finde ich, wir sollten nicht solche Panik machen und auf die anderen starren, sondern unsere Stärken in den Vordergrund stellen. Aus unserem Ligasystem gehen immer wieder hervorragende Spieler hervor.

Was hat den Ausschlag dafür gegeben, dass Sie noch immer gut genug sind, sich international zu behaupten?

Keller:

Ich denke, dass ich mich über die Jahre im athletischen Bereich verbessert habe, sodass ich auch heute noch mit den Jungen mithalten kann. Bei mir ist es die Mischung aus Technik, Überblick, der Gabe des schnellen Antizipierens und Erfahrung, die den Ausschlag gibt, dass ich weiter dabei sein darf. Und ich spiele mit viel Spaß, weil ich doch schon alles erlebt habe.

Das Turnier wird als Doppel-Event mit der Herren-EM ausgetragen. Ist das ein Vor- oder Nachteil für die Damen?

Keller:

Wir können davon nur profitieren, denn durch die Präsenz der Herren bekommen wir auch mehr Aufmerksamkeit. Es werden viele Zuschauer, die hauptsächlich wegen der Herren kommen, auch unsere Spiele anschauen, und das ist unsere Chance, im Sog mitzuschwimmen und die Kritiker zu überzeugen.

Haben Sie eine Erklärung dafür, dass Hockey die einzige Teamsportart ist, in der Damen und Herren ihre Turniere gemeinsam austragen?

Keller:

Ich denke, es hat damit zu tun, dass im Hockey Mädchen und Jungs von Beginn an miteinander aufwachsen. In kaum einer anderen Sportart ist es so wie im Hockey, dass Vereine in einer Sparte bei Damen und Herren gleichen Erfolg haben. Diese Verbindung, die es von Kindesbeinen an gibt, bleibt auch in der Weltspitze bestehen. Es hat sich ja schon mehrfach bewährt, ein Turnier als Doppelevent auszutragen, weil so insgesamt alles größer wirkt. Vielleicht hätten wir ohne den jeweils anderen nicht die TV-Präsenz.

ARD und ZDF übertragen fast alle deutschen Spiele live. Was bedeutet das für eine Mannschaft, die sonst nicht so im Rampenlicht steht? Spielt man anders, wenn man weiß, dass viele Menschen zuschauen?

Keller:

Ich hoffe, dass während des Spiels keine von uns über so etwas nachdenkt. Ich persönlich habe nie das Gefühl gehabt, dass es etwas Besonderes ist, wenn wir live im Fernsehen zu sehen waren. Für mich sind eher die Zuschauer im Stadion ein Faktor, die können einen schon nervös machen oder anspornen. Die Fernsehpräsenz ist für unsere Sportart einfach wichtig, denn das gibt uns einen anderen Stellenwert.

Dass TV-Präsenz ein Team auch überfordern kann, haben wir bei der Frauenfußball-WM gesehen. Haben Sie die DFB-Damen um den Rummel, der um ihr Turnier gemacht wurde, beneidet, oder taten sie Ihnen auch manchmal leid?

Keller:

Grundsätzlich bin ich froh, dass ich ein ganz normales Leben führen kann und nicht so im Mittelpunkt stehe, wie es die Fußballerinnen bei ihrer WM taten. Dennoch habe ich schon gedacht: Wahnsinn, wie die gepusht werden! Die haben einfach einen viel größeren und mächtigeren Verband hinter sich. Natürlich würde ich mir wünschen, dass Hockey auch mal diese Aufmerksamkeit hätte, solange das Interesse auf den Sport bezogen bleibt.

Den Vergleich zum Männerfußball, den die Frauen erdulden mussten, kennen Sie aus dem Hockey auch. Wie nehmen Sie diese Diskussionen wahr?

Keller:

Als überflüssig, denn man sollte anerkennen, dass es zwei verschiedene Sportarten sind. Allerdings denke ich, dass es im Hockey nicht so gravierend ist wie im Fußball. Durch das Wegfallen des körperlichen Elements, das im Fußball die vielen direkten Zweikämpfe darstellen, wirken Damenhockeyspiele zwar nicht so athletisch und schnell, dafür aber technisch ansehnlicher.

Tatsächlich ist es so, dass die Herren oftmals wesentlich mehr Aufmerksamkeit bekommen. Ärgern Sie sich darüber?

Keller:

Nein, ich gucke ja selbst gern Herrenspiele.

Bei der Frauenfußball-WM gab es den Fall Birgit Prinz. Eine verdiente, langjährige Nationalstürmerin bringt die gewohnte Leistung nicht und wird während eines Turniers von Jüngeren verdrängt. Haben Sie darüber nachgedacht, dass Sie bei der EM im schlechten Fall die Birgit Prinz des Hockeys werden könnten?

Keller:

Da gibt es tatsächlich Parallelen, auf die ich auch schon angesprochen wurde. Im Moment stimmt meine Leistung zwar, aber natürlich kann sich das schnell drehen. Trotzdem ist die Situation im Hockey anders als im Fußball, weil wir durchwechseln können und deshalb niemand ein ganzes Spiel auf der Bank sitzen muss. Ich hatte ja auch schon einige Phasen, in denen ich nicht in der Startformation stand. Wenn ich allerdings auf die Tribüne müsste, würde ich schon meine Konsequenzen ziehen. Ich möchte nicht den richtigen Zeitpunkt zum Aufhören verpassen, und nur als Tourist zu einem Turnier mitzufahren.

Was waren der positive und der negative Höhepunkt Ihrer Laufbahn?

Keller:

Positiv war es sicherlich der Olympiasieg in Athen 2004, etwas Größeres habe ich sportlich nie erlebt. Ein Olympiasieg bleibt für immer, und er öffnet einige Türen. Negativ waren die vierten Plätze bei Olympia 2008 in Peking und bei der WM 2010 in Argentinien, da war ich sehr enttäuscht. In Peking hat mir geholfen, dass mein Bruder Florian mit den Herren Gold gewann.

Ihre Familie hat den Hockeysport geprägt. Ihr Großvater Erwin gewann 1936 Olympiasilber, Ihr Vater Carsten 1972 Gold, Ihr Bruder Andreas 1992 ebenso. Mussten Sie Olympiasiegerin werden, um anerkannt zu werden?

Keller:

Im Gegenteil. Unsere Eltern haben uns völlig frei unsere Talente entwickeln lassen. Meine Mutter hat Tennis gespielt, mit Hockey hatte sie nichts zu tun. Auch ich habe mit Tennis angefangen, mich aber als Teenager für Hockey entschieden, weil mir der Mannschaftssport besser gefiel. Das Erfolgsgeheimnis in unserer Familie ist, dass wir bei allem Ehrgeiz nie zu etwas gedrängt wurden. Mein ältester Bruder Torsten hat auch Bundesliga gespielt, sich aber früh für den Beruf entschieden. Trotzdem wird er in der Familie voll akzeptiert.