Der Hamburger Sportsoziologe Dr. Markus Friederici blickt in seiner monatlichen Kolumne auf das Sportgeschehen zurück.
Hamburg. § 41 des Rundfunkstaatsvertrag über die Programmgrundsätze besagt: „Für die Rundfunkpro-gramme gilt die verfassungsmäßige Ordnung. Die Rundfunkprogramme haben die Würde des Menschen sowie die sittlichen, religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen anderer zu achten.“
Auf den Seiten des Informations-Dienstleisters NonstopNews (http://www.nonstopnews.de), der nach eigenen Angaben „binnen kürzester Zeit zum zweitgrößten unabhängigen Nachrich-tendienst in ganz Deutschland“ geworden ist und „renommierte Sender wie RTL, Sat1, N24, ARD, ZDF und Pro7“ beliefert, hält unmittelbar nach dem Tod Enkes unter der NewsNr. 10007 folgende Informationen für die zahlungswillige Kunden bereit:
• Totale der Einsatzstelle, Großaufgebot Feuerwehr und Polizei vor Ort
• Feuerwehrleute stehen rund um den Regionalzug
• Auto von Robert Enke unweit des Bahnübergangs
• Exklusiv: Abfahrt Rettungswagen
• Exklusiv: Mercedes M-Klasse von Robert Enke wird auf Abschlepper sichergestellt
• Notfallseelsorger vor Ort Polizei bei Unfallaufnahme
• Frau von Robert Enke, Teresa: „Jetzt sagen sie mir endlich was mit meinem Mann ist”
• Abfahrt Leichenwagen
Die hier aufgeführten Dienstleitungen anzubieten, kann kritisiert werden. Hier stellt sich aber die Frage, inwieweit Sendeanstalten, die den Vorgaben des Rundfunkstaatsvertrages unterlie-gen, solches Material erwerben bzw. senden dürfen. Schließlich verletzten die Bilder, die wir sehen konnten, die Würde des Menschen in eklatanter Form – und widersprechen zudem den sittlichen Überzeugungen anderer. Zum Beispiel meiner.
Dass in einer freien Marktwirtschaft in allen Bereichen menschlichen Miteinanders, in denen man Geld verdienen kann, auch Geld verdient wird, ist systemimmanent. Der Preis des Pro-duktes wird auch auf dem Informations-Markt über die Mechanismen Angebot und Nachfrage bestimmt. Über die Höhe des Profits entscheidet letztlich die Geschwindigkeit – es gilt, die zeitliche Lücke zwischen Ereignis und Kameraaufnahme bzw. O-Ton so gering wie möglich zu halten. Die Maxime lautet: schnell sein und dicht rangehen. Und die „Kollegen“ von NonstopNews waren im (Todes-)Fall Enke richtig dicht dran. Und sehr schnell. Schneller war in diesem Jahr lediglich ein brasilianischer Journalist, der Menschen umbringen ließ und dann mit dem Filmen begann, als der Colt noch glühte. Doch das ist eine andere Geschichte und soll, wie es Michael Ende in seinen Büchern häufig formulierte, an anderer Stelle erzählt wer-den. Wir wollen uns mit der Frage beschäftigen, warum einige Medien Material senden, das offenkundig nicht der Pflicht nach Information unterliegt. Und wie wir auf diesen Tatbestand reagieren können. „Lukas“ fragt in diesem Zusammenhang im Webblog von Medienjournalist Frank Niggemeier am 12. November 2009, ob jemand weiß, wie „groß die Redaktionsbüros von „Newstime” seien und wie lange ich entsprechend bräuchte, um sie hüfthoch vollzukot-zen?“ (http://www.stefan-niggemeier.de/blog/lebt-er-noch). Sicher auch eine Strategie, um Kritik zum Ausdruck zu bringen. Aber nach all den Medienberichten über den Tod von Ro-bert Enke scheint es mir (mal wieder) an der Zeit, die Frage überpersonaler und grundsätzli-cher zu stellen – und einmal mehr die Bigotterie einiger Medien zu dokumentieren. Die Ham-burger Morgenpost (wie viele andere Boulevard-Blätter) berichtet am 23.11.2009 unter dem Titel „Schock-Therapie für Unfall-Gaffer“ auf Seite 1 von der Initiative zweier CDU-Innenminister, das „Gaffen“ an Unfallstellen unter Strafe zu stellen – und befriedigen mit der Art der Darstellung von Inhalten doch genau dieses Bedürfnis nach Sensation und Spektakel. Mehr noch: Sie produzieren eben jenes Bedürfnis durch die grenzüberschreitende und emoti-onalisierte Berichterstattung wie im Fall Enke. Denn nach all dem, was und wie von den Glei-sen in Eilvese berichtet wurde, kann man sicher sein, dass bei einer vergleichbaren Tat am Gleisbett die „Gaffer“ die Szenerie beherrschen.
Hier drängt heimlich, still und leise einmal mehr eine Frage von den Untiefen des Unbewuss-ten in's Bewusstsein. In's Ich. In's Jetzt und hier. Die Frage, in welcher Gesellschaft wir le-ben wollen. Und nach welchen Regeln diese Gesellschaft funktionieren soll – die „gute“ Ge-sellschaft. Mit der Frankfurter Schule und der Etablierung der „Kritischen Theorie“ durch Vertreter wie Adorno, Horkheimer und Habermas kam es zu einem fundamentalen Professi-onsstreit in den Sozialwissenschaften, wollten die Hessen doch nicht nur beschreiben und erklären, worin einst Max Weber die Aufgabe der Disziplin sah („soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären“), son-dern auch bewerten. Bewerten heißt: Sagen (und schreiben), ob das, was sich uns als soziale Wirklichkeit offenbart, „gut“ oder „schlecht“ ist. Diese Wissenschaftler hatten sich u.a. zum Ziel gesetzt, ihre Erkenntnisse vor dem Hintergrund eines Bildes zu projizieren – dem Bild einer „guten“ Gesellschaft. Mir scheint es an der Zeit, dass sich die (Sozial-)Wissenschaft mit ihrer durchaus vorhandene Praxistauglichkeit wieder stärker in den Kanon öffentlicher Stim-men einreiht, um nicht nur die Grenzen des Machbaren, sondern auch die des Erlaubten (in einer „guten“ Gesellschaft) infrage zu stellen.
Doch nicht nur die Wissenschaft ist hier in der Pflicht. Jeder einzelne ist aufgerufen, das Bild der „guten“ Gesellschaft in sich zu suchen, seinen sozialen und moralischen Kompass zu ü-berprüfen und gegebenenfalls nachzujustieren. Im Fall Enke zumindest scheint sich ein deut-licher, moralischer Konsens abzuzeichnen, was die Grenzen des guten Geschmacks betrifft. Aber auch diesen Konsens gilt es zu hinterfragen. Fangen wir also bei uns an: Ich nenne Ihnen sechs Ereignisse, die sich in den letzten Tagen zugetragen haben und über die berichtet wur-de. Was ist erlaubt in einer „guten“ Gesellschaft, und was nicht? Schauen wir also, ob ihr Kompass, nach eingehender Betrachtung der Fakten, auszuschlagen beginnt:
Die Witwe von Robert Enke wird am Gleisbett gefilmt. Trauernde Menschen, Leichen und Rettungskräfte werden in Nahaufnahme unmittelbar nach einem Erdbeben gezeigt. Der Lok-führer des Zuges, der Robert Enke erfasst hat, soll interviewt werden. Die Witwe Enkes hält einen Tag nach dem Tod ihres Mannes eine Pressekonferenz ab, begleitet von Robert Enkes Psychologen, der offen über die Depression seines Patienten reflektiert. Der Leichenwagen wird bei Abfahrt vom Bahnhof gefilmt. Die sterblichen Überreste Enkes werden in der Mitte eines Fußballplatzes aufgebahrt, die Trauerfeier wird mit Videofilmen unterlegt und von Poli-tikerreden begleitet.
Nun, alles ganz eindeutig richtig oder falsch, gut oder schlecht? Falls nicht, sollten wir nicht nur uns hinterfragen, sondern auch und gerade die Reflexe öffentlicher Empörung zurückver-folgen und eine grundsätzliche Debatte darüber führen, nach welchen medialen Regeln die Gesellschaft, in der wir leben, gestaltet werden soll.
Verstehen Sie mich nicht falsch: Eine Frau zu filmen, die gerade dabei ist zu erfahren, dass sich Mann getötet hat, hat meines Erachtens nichts mit Berichterstattung zu tun. Und das Ar-gument: „Der Konsument will es so, es besteht ein Bedarf; also liefern wir ihm legitimerwei-se, was er erwartet” ist grotesk – mit einer solchen Begründung ließen sich auch kinderporno-graphische Filme rechtfertigen. Aber denken wir doch darüber nach, was mittlerweile still-schweigend als Konsens des guten Geschmacks und des Rechts auf Information interpretiert wird. Darüber sollte diskutiert werden, und nicht über die Ursachen von Norbert Enkes De-pression – es sei denn, sie findet ihren Ursprung oder ihre Verstärkung im Leistungssportsys-tem. Das Outing einiger Sportler nach dem Tod zeigt zwar, dass Enkes Krankheitsbild keine Ausnahme ist. Aber das Leistungssportsystem daraufhin in Frage zu stellen, greift zu kurz. Denn die Zahl der Berufsgruppen, die unter enormen Leistungsdruck stehen und mit den mas-siven psychischen Folgen dieser Belastungssituation umgehen müssen, nimmt gerade in Zei-ten einer Rezession zu. Letztlich sind es die Auswüchse der Leistungsgesellschaft, die nach Regeln funktioniert, die auf dem Prinzip der Maximierung basieren. Einem Prinzip, dem eben nicht jede Psyche gerecht werden kann.
Auf den Seiten des Satire-Magazin Titanic finden wir unterdessen am 12. November folgende Nachricht: „Die Redaktion TITANIC bedauert aufrichtig die unentschuldbare Entgleisung im jüngsten Startcartoon, möchte aber darauf hinweisen, daß eine Entgleisung das einzige gewe-sen wäre, was Robert Enke noch hätte helfen können.“ http://www.titanic-magazin.de/rss.3290. Ähnlich reflexhaft wie im Fall der Berichterstattung über den Tod En-kes tauchte hier in einigen Internetforen die Fragen auf: „Darf Satire das?“ Soziologisch be-trachtet könnte es sich lohnen, auch die Frage nach dem „Muss Satire das?“ zu stellen. Denn ähnlich wie der Leichenschmaus nach einem Begräbnis, wo gegessen, erzählt und gelacht werden soll, erfüllt auch die Satire die Funktion einer Ventilsitte (wobei es dahingestellt bleibt, ob das die Intention der Titanic-Macher war und ist). Und so möchte ich zum Ab-schluss auch noch einen satirischen, aber auf Fakten basierenden Beitrag loswerden: Dass, was sich einige Sender in Bezug auf die Berichterstattung im Fall Enke geleistet haben, war nicht nur geschmacklos. Es war viel mehr als das. Es war eine Anstiftung zum Selbstmord. Denn der amerikanische Soziologe David Philipps hat in den 1970er Jahren empirisch bele-gen können, dass infolge der Berichterstattung der New York Times über den Selbstmord von Prominenten die Zahl der Suizide in der Stadt deutlich anstieg. Mehr noch: Die Selbstmordra-te stieg proportional zur Dauer und zum Umfang der Berichterstattung.
Den Journalisten von NonstopNews sei ein weiterer, wissenschaftlicher Beitrag anempfohlen: die Ausführungen Immanuel Kants zum kategorischen Imperativ. Eben jener gebietet allen vernunftbegabten Wesen nach der Maxime zu handeln, dass das eigene Handeln zugleich ein allgemeines Gesetz werde könnte. Wenn kirchliche Gebote, die verfassungsrechtlich ge-schützte Würde des Menschen und ein Rundfunkstaatsvertrag schon nichts nützen, dann viel-leicht eben jene Selbstverpflichtung eines jeden (Journalisten), an der Errichtung einer guten Gesellschaft mitzuwirken. Man wird ja wohl noch träumen dürfen.
Der Hamburger Sportsoziologe Dr. Markus Friederici berichtet in einer monatlichen Kolum-ne über das Sportgeschehen.