Glinde/Lübeck. Der mutmaßliche Haupttäter (26) räumt Schüsse auf einen 40-Jährigen ein. Er behauptet, zuerst mit Messer attackiert worden zu sein.
"Er ist mit dem Messer in der Hand hinter mir hergelaufen, kam immer näher", sagt Viktor P. (Name geändert). "Dann habe ich geschossen, um mich zu retten." Er habe vier Schüsse abgegeben. Im Prozess um die Schießerei nahe dem Golfplatz in Glinde haben sich am zweiten Verhandlungstag vor dem Schwurgericht in Lübeck zwei der drei Angeklagten zu den Tatvorwürfen geäußert. Sie präsentierten einen anderen Ablauf der gewaltsamen Auseinandersetzung am 28. April 2020, bei der ein 40 Jahre alter Mann aus Hamburg lebensgefährlich verletzt wurde.
Tatvorwurf lautet versuchter Totschlag
Die Staatsanwaltschaft wirft den drei Angeklagten aus Glinde und Reinbek (alle 26 Jahre) versuchte schwere räuberische Erpressung, gefährliche Körperverletzung und gemeinschaftlich begangenen versuchten Totschlag vor. Laut Anklagevertreter Niels-Broder Greve lockte der mutmaßliche Haupttäter Viktor P. das spätere Opfer an jenem Abend zu einem abgelegenen Treffpunkt an der Straße In der Trift, um mit ihm über Geldschulden zu sprechen, die der Neffe des Hamburgers bei ihm haben sollte. Laut Anklageschrift ging es um 1800 Euro.
Die Angeklagten sitzen in Untersuchungshaft
Zu dem Treffen soll Viktor P. einen Revolver sowie zwei ebenfalls bewaffnete Freunde mitgebracht haben. Nach Überzeugung der Staatsanwaltschaft soll das Trio mit der Gewalt angefangen, dem 40-Jährigen einen Schlag gegen die Schläfe versetzt und einen Schuss abgefeuert haben. Daraufhin soll der Hamburger ein Messer gezogen und damit Viktor P. einen Stich versetzt haben, anschließend sollen die Angeklagten weitere Schüsse abgefeuert haben. Der 40-Jährige, der vor Gericht als Nebenkläger auftritt, kam mit lebensgefährlichen Verletzungen in ein Krankenhaus. Viktor P. wurde durch den Messerstich schwer verletzt. Er suchte später selbst ein Krankenhaus auf, wurde dort von der Polizei festgenommen. Seit Anfang Mai sitzt der Glinder, der 1999 mit seiner Familie aus Kasachstan nach Deutschland kam, in Untersuchungshaft.
Angeklagter: "Ich wurde bedroht"
Vor Gericht skizziert der 26-Jährige am Freitag einen anderen Ablauf der Ereignisse als die Staatsanwaltschaft. Er habe den Neffen des Hamburgers bei seiner Ausbildung zum Elektriker in der Berufsschule kennengelernt. "Wir haben miteinander gechillt, waren öfter mal feiern", sagt der Glinder. Sein neuer Kumpel habe sich immer wieder Geld bei ihm geliehen, mal 200 oder 300 Euro, einmal auch 500 Euro. Irgendwann sei der Mann nicht mehr zur Berufsschule gekommen, der Kontakt vorübergehend abgerissen.
Das Trio kam bewaffnet zum Treffpunkt
Eine Woche vor der Schießerei habe der Neffe ihn kontaktiert und behauptet, er schulde ihm gar nichts mehr. Zugleich habe er gedroht, dass "seine Jungs ihm in die Fresse hauen" werden. Um eine Konfrontation zu verhindern, sei er fortan früher von der Arbeit gegangen, habe bestimmte Geschäfte gemieden, in denen der Neffe oder dessen Kumpels ihn möglicherweise abpassen könnten.
Am 28. April habe er mit dem Onkel telefoniert, sagt Viktor P. Dieser habe ihn mit Schimpfwörtern beleidigt und ihn aufgefordert, nach Bergedorf zu kommen, um die Sache zu klären. "Ich habe gedacht, dass das eine Falle ist und ihn nach Glinde bestellt", sagt Viktor P. Seinen Freunden habe er erzählt, dass er "Stress mit den Russen aus Bergedorf" habe. Gemeinsam hätten sie beschlossen: "Wir können da nicht ohne nichts hin", wie er vor Gericht sagt. Sie seien sicher gewesen, dass der Onkel bewaffnet und mit Verstärkung beim Treffpunkt erscheinen würde. Die Angeklagten rüsteten sich mit einem Revolver, einer Pistole und einem Beil aus.
Angehörige verfolgen den Prozess im Gerichtssaal
Bei dem Treffen habe der 40-Jährige ihn beleidigt, teils auf Russisch, und ihm Sprüche wie "Wegen so ein bisschen Kleingeld heulst du herum?" an den Kopf geworfen. "Als ich ihn auch beleidigt habe, hat er ein Messer gezogen und mir sofort in die Brust gestochen", sagt der Glinder und zeigt auf die Stelle seines Körpers, an der er getroffen worden sei.
"Das war ohne Vorwarnung", sagt der Mitangeklagte Ömer B (Name geändert). "Ich habe daraufhin die Pistole gezogen und ,Stopp' gerufen." Der Hamburger sei dann auf ihn zugegangen. "Ich habe Angst bekommen und auf den Boden geschossen, aber das hat ihn nicht beeindruckt", sagt der 26-Jährige, der in Reinbek geboren wurde und längere Zeit als Sicherheitsmitarbeiter in Flüchtlingsheimen gearbeitet hat. Seine Eltern und sein älterer Bruder verfolgen die Aussage von den Besucherplätzen aus.
Der Angeklagte suchte selbst eine Klinik auf
Sie seien dann Richtung Wald geflüchtet, der 40-Jährige hinterher, behaupten die Angeklagten. Viktor P. sei wegen des Messerstiches zurückgefallen. "Irgendwann konnte ich nicht mehr", sagt der 26-Jährige. Dann habe er die Schüsse abgegeben, um sich zu retten. Erst dadurch habe der Verfolger von ihm abgelassen. "Ich dachte, ich würde jeden Moment sterben", sagt Viktor P. "Ich hatte so viel Blut verloren." Ömer B. brachte ihn ins Krankenhaus. Noch heute leide er unter der Verletzung. "Ich bekomme abends Schnappatmung, so als ob ich keine Luft mehr bekommen würde."
Richter dürfen keine Nachfragen stellen
Nachfragen der Richter zu den Aussagen der Angeklagten lassen deren Verteidiger am Freitag nicht zu. Der Anwalt des dritten Angeklagten sieht nach den Einlassungen der anderen "Gesprächsbedarf mit seinem Mandanten". Deswegen wolle er die ursprünglich vorbereitete Erklärung noch nicht verlesen.
Der Prozess wird am Mittwoch, 27. Januar, fortgesetzt. Ein Urteil wird frühestens Mitte März erwartet.