Kreis Pinneberg. 50 Jahre in 50 Wochen. Diesmal geht es um 1991, als viele Ausländer kamen, Benzin teurer und ein Tennisstar geboren wurde.
Außer mit einer allgemein hohen Konsumstimmung ist das Jahr 1991 mit einer ordentlichen Portion Skepsis gefüllt. Gründe dafür sind die Wiedervereinigung und der Anstieg der Asylbewerberzahlen. Neben kontroversen Diskussionen im Kreis löst dieser Fakt auch etwas Angst vor dem Unbekannten und damit Fremdenfeindlichkeit aus.
Benzinpreise im Kreis Pinneberg steigen
1990 werde, „noch während der folgenden zwölf Monate Probleme aufwerfen, die die 49 Städte und Gemeinden im Kreis Pinneberg nur allmählich lösen können“, titelt das Abendblatt am 2. Januar. Eine Welle von Aus- und Übersiedlern aus dem Ostblock habe „zusätzlich zur Asylbewerberflut für soziale Spannungen gesorgt und eine drängende Wohnungsnot“ ausgelöst. Abhilfe sollen mindestens 195 öffentlich geförderte Sozialwohnungen in acht Orten schaffen.
Die Pinneberger Nordmarkwerke (Arzneimittel) beteiligen sich an einem Lieferstopp in die Ex-DDR-Bundesländer, solange gesetzlich nicht gesichert ist, wie die Pharma-Industrie auf ein zu erwartendes Defizit der Krankenkassen in jenem Gebiet reagieren solle. Eine moralische Verpflichtung gilt nicht, denn die Versorgung sei „im wesentlichen gesichert“. Die Firmen müssten generell laut deutsch-deutschem Einigungsvertrag mit einem Preisnachlass von 50 Prozent liefern.
Die Golfkrise im Irak und Kuwait sorgt für einen steigenden Ölpreis. Das merken Pinneberger an den Zapfsäulen. Aus Furcht vor einer Preisexplosion lassen sich viele Kreis-Bürger den Heizöltank komplett befüllen. Die Sorge vor „Terroranschlägen islamistischer Fanatiker“ ist auch da. Potenzielle Ziele sind nach Abendblatt-Angaben im Kreis Pinneberg „Rüstungsfirmen, Energieversorger und Sperrwerke.“
Elektrifizierung der Bahnstrecken „Geldverschwendung“?
Umweltminister Klaus Töpfer schaut sich Ende Januar die „ökologischen Brennpunkte“ des Kreises an (Klärschlamm-Deponie in Hetlingen, Dioxin-verseuchter Boden in Uetersen, eine weitere Müll-Deponie, gegen die eine Ellerhooper Bürgerinitiative kämpft). Der Minister lässt sich im Gasthof Kröger nicht zu konkreten Zusagen drängen. Unter anderem werden Wetten angeboten: Wenn er es nicht schafft, innerhalb von sechs Monaten den Boden abzutragen, solle Töpfer die Pinnau durchschwimmen.
Im Februar ist Landesfinanzministerin Heide Simonis beim Neujahrsempfang der SPD in Rellingen. Selbstbewusst behauptet sie, dass „die SPD eine gute Finanzpolitik macht. Ich sage das, weil ich die Dame kenne, die dafür sorgt!“ Über die Wiedervereinigung sagt sie im finanziellen Sinne: „Ziehen wir uns warm an, es werden harte Jahre.“
Etwas überraschend kommt die Meinung der Grünen-Fraktion im März daher, dass die geplante Elektrifizierung der Bahnstrecken im Bundesland weder wirtschaftlich noch transporttechnisch Sinn hat. Die vorgesehene Investition von 800 Millionen Mark sei „Geldverschwendung“. Die Elektrifizierung sei ein „reines Prestigeobjekt“, die Zeitersparnis bei der Umstellung auf Strombetrieb liege bei „wenigen Minuten.“ .
Pinneberger Drostei als Kulturzentrum wiedereröffnet
In Wedel gibt es den ersten Drogen-Toten des Jahres im Kreis Pinneberg – geschätzt rund 500 Bürger „hängen an der Nadel“. Fünf Tote durch eine Überdosis gab es 1990. Mit dem Sozialtherapeutischen Zentrum Elmshorn gibt es nur eine „ernstzunehmende Hilfsmöglichkeit im Kreis Pinneberg.“
Der Bund stoppt die Zuschüsse: Dem Kreis fehlen 200.000 Mark für die Aids-Beratung. Es gibt zwei Fachkräfte für eine auf vier Jahre befristete Planstelle im Kreisgesundheitsamt. Der ohnehin finanziell stark belastete Kreis soll die Personalkosten allein stemmen.
Nach sechseinhalb Jahren Restaurationszeit und zehn Millionen Mark Investitionskosten wird Drostei in Pinneberg am 12. April als Kulturzentrum feierlich wiedereröffnet. Bis in den Herbst hinein steht das Programm. Es gibt Lesungen, Filme oder Volkstänze.
„Unternehmer laufen in der Ex-DDR gegen neue Mauern“
Die Polizei Pinneberg soll mit Computern aufgerüstet werden. Wow! Bis Ende 1992 stellt das Land eine Million Mark zur Verfügung. „Eine Maus hat es der Polizeiführung im Kreis Pinneberg angetan“, ist der Einstieg in den Artikel, um dann die Aufklärung folgen zu lassen. Journalistischer Chauvinismus?
Das Thema Rechtsradikalismus kommt in Gestalt von Skinheads wieder in Mode. Einige behaupten, ausschließlich aus Gründen einer Gegenbewegung zur Antifaschistischen Aktion (Antifa). Der Kreisjugendschützer begibt sich nach Tipps der hiesigen Antifa, die von drangsalierten Bürgern spricht, auf Recherche-Tour. Zwei Wochen. Manfred Hintze kann „keine fest geschlossene Szene“ ausmachen, erkennt jedoch Hakenkreuze an Wänden und gefrustete, gewaltbereite Jugendliche nebst gefährlichem Nährboden. „Es braucht nur der Richtige zu kommen“, meint er. Die Zeile zum Artikel: „Hintze: Es braucht nur der richtige Führer zu kommen“.
Der Hype, durch eine Expansion im Osten neue Einnahmenquellen zu generieren, scheint vorbei. Zwei Drittel der hiesigen Unternehmer hatten im Vorjahr ihre Fühler ausgestreckt. Doch: „Man wird brutal behindert“, sagt Kibek-Chef Frank Sachau aus Elmshorn. Unter anderem Bürokratie und Eigentumsansprüche ehemaliger Grundbesitzer erschweren das Geschäft. Bereits unterzeichnete Vereinbarungen würden kurzerhand wieder aufgehoben. Kurzum: „Unternehmer laufen in der Ex-DDR gegen neue Mauern“.
Unterkünfte für Asylbewerber „gerammelt voll“
Auf den Maikundgebungen spricht der Elmshorner Ortsvorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB): „Die staatliche Einheit unseres Landes ist erreicht, die soziale Einheit steht noch aus.“ Er prognostiziert, dass in Ostdeutschland gegen Ende des Jahres die Hälfte aller Erwerbstätigen arbeitslos sein wird. Gefeiert wird in Elmshorn trotzdem – die Krückaustadt wird 850 Jahre alt.
Seit März 1990 waren zwei Pinneberger in Libyen in Gefangenschaft, erst in einem Gästehaus, dann im Kerker, „obwohl wir uns nie etwas haben zuschulden kommen lassen.“ Es wurde weder gegen das Alkoholverbot verstoßen noch sich in libysche Staatsangelegenheiten eingemischt. Nach der Rückkehr nach Pinneberg – unter anderem hatte sich der heute noch präsente FDP-Bundestagsabgeordnete Wolfgang Kubicki für die Freilassung eingesetzt – kommt die Freude nach einer Woche im Alltag „noch nicht richtig durch.“ Beide hielten 423 Tage auf 16 Quadratmetern aus.
Im Juni leben bereits 1100 Asylbewerber im Kreisgebiet. Vor fünf Jahren war kaum die Hälfte. Dabei sind schon jetzt alle Unterbringungsmöglichkeiten „gerammelt voll.“ Eventuell werden auch Turnhallen als Wohnraum dienen müssen, wird befürchtet. Die Pinneberger Großturnhalle am Theodor-Heuss-Gymnasium ist mit Ausnahmegenehmigung der Landesregierung vorgesehen. Mit einer Fertigstellung des Baus vor 1993 sei allerdings nicht zu rechnen.
Elmshorner Michael Stich gewinnt Wimbledon
Der Sprit wird Anfang Juli noch teurer – bis zu 28 Pfennig. Der Liter Super kostet knapp 1,53 Mark. Grund für die Preiserhöhung sei auch die Wiedervereinigung: „Die Einheit Deutschlands fordert ihren Preis – nicht zuletzt von den Autofahrern.“ Die Polizei setzt nun neue Lichtschranken-Messgeräte ein. Der „rote Blitz“ sorgt dafür, „dass sie auch hinter ihrer Windschutzscheibe gut zu erkennen sind.“ In einem ersten Durchlauf werden in Prisdorf in drei Stunden 230 Sünder erwischt. 400 „gestochen scharfe“ Aufnahmen sind pro Film möglich.
Der Elmshorner Michael Stich gewinnt das Tennis-Finale in Wimbledon überraschend gegen Publikumsliebling Boris Becker (6:4, 7:6, 6:4). Derweil wächst der Unmut gegenüber Flüchtlingen. Dem müsse entschieden entgegengewirkt werden. „Wir müssen der Ghettoisierung entgegenwirken und bei allen Bauvorhaben ein Kontingent für diesen Personenkreis freihalten“, sagt Jan Caesar von den Quickborner Grünen. Nur so sei eine „menschenwürdige Unterbringung und Integration“ möglich.
Beim öffentlich tagenden Stadtentwicklungsausschuss Pinneberg wird gegen den Bau eines Asylantenheims am Thesdorfer Weg protestiert. Es gibt die Sorge, dass Anwohner belästigt werden und die angrenzende Schule „mit Drogen überschwemmt werde.“ In Barmstedt möchte ein Bürger einen Teil seines Hauses Asylbewerbern zur Verfügung stellen. Bürgermeister Burkhard Repenning wird bei der Besichtigung schon von einem „Dutzend aufgebrachter Nachbarn empfangen.“ Diese seien zwar keine Rassisten, aber „so viele ausländische Gäste“ könne man unmöglich integrieren.
Widerstand gegen Pläne für Windpark bei Uetersen
In Neuendeich an der Uetersener Grenze soll an einem 1500 Meter langen Streifen eine Kette von Windrädern aufgestellt werden. Während der Landwirt das Gebiet gern verpachten möchte, formiert sich in Uetersens Verwaltung Widerstand. Windkraft ist zwar gern gesehen, aber bitte nicht vor der eigenen Haustür. Dabei gibt es in der Marsch in Hofnähe ohnehin schon „mindestens sechs Strom-Masten“, sagt der Bauer.
„An den Engpässen in vielen Branchen sind jedoch nicht, wie viele Verbraucher argwöhnen, die ‚Ossis‘ schuld“, schreibt diese Zeitung im August. Die Nachfrage nach Konsumartikeln, Baustoffen und Co. ist bundesweit stark gestiegen, der alleinige Sündenbock scheint aber ausgemacht, wenn es eine Wartezeit gibt. Wenn es um „Raschelvelours“ für die Polster-Garnitur geht, soll das Vorurteil allerdings stimmen, jener sei in den neuen Ländern sehr beliebt.
Ein Tempolimit von 100 bis 120 km/h auf der A7 in Höhe Quickborn im Vorjahr hatte für viel Protest gesorgt. Die Durchschnittsgeschwindigkeit lag bei 165 Kilometern pro Stunde. Der Effekt ist positiv: Seit der Einführung ist die Zahl der schweren Unfälle konstant geblieben – während im Land die Quote um 35 Prozent stieg. Die Zahl der Kirchenmitglieder sinkt dagegen. Zwischen Juli und September 1991 waren es 83 Austritte in Pinneberg, im Vorjahreszeitraum 34. Hauptgründe sind finanzielle Belastungen, mit ausgelöst durch den – zunächst auf ein Jahr befristeten – Solidaritätszuschlag. Im Kreis hat sich die Zahl der Gläubigen, die dafür weiter Steuern zahlen, halbiert.
„Brummende Konjunktur im Kreis Pinneberg“
Etwa 200 Skinheads werden in Schleswig-Holstein, unter anderem im Hamburger Umland, vermutet. Im Kreis sind jene bislang nur vereinzelt in der AKN oder an einem Asylbewerberheim in Halstenbek in Erscheinung getreten. Nach den rassistisch-motivierten Vorkommnissen in Hoyerswerda (Sachsen) behält der Verfassungsschutz ab Oktober vermehrt Flüchtlingsheime im Auge und möchte V-Leute einsetzen.
Bei „brummender Konjunktur im Kreis Pinneberg“ steigt auch die Anzahl der Krankmeldungen. Dies stellen Firmen und Krankenkassen fest. Die Arbeitgeber klagen über das „krank machen“, der Elmshorner Arbeitsmediziner Dr. Peter Schmidt-Wiederkehr gibt der Arbeit die Schuld. Er weist auf Arbeitsbedingungen, Stress und fehlende Gesundheitsvorsorge in den Betrieben hin. 3000 Schaulustige zur offiziellen Eröffnung und später „zehntausende“ Kaufwütige stürmen das nach zehn Jahren Plan- und Bauzeit neue Schenefelder Stadtzentrum mit mehr als 100 Geschäften.
Mehr PI-Kennzeichen als jemals zuvor
Im November liegen die Zahlen der Kfz-Zulassungen vor: 163.810 Fahrzeuge sind es im Kreis. Wieder mal neuer Rekord. Das Abendblatt fragt, wo das noch enden soll, trotz „länger werdender Staus, ständig steigender Kosten und zunehmender Umweltbelastung.“ Innerhalb eines halben Jahres sind fast so viele neue Autos hinzugekommen wie sonst in einem Jahr. Und: Zwei Molotow-Cocktails werden an die Mauer eines Flüchtlingsheimes geworfen.
Weil die vorweihnachtliche Geschenkeflut per Paketpost im Dezember eine neue Dimension angenommen hat, arbeiten 630 Mitarbeiter im Pinneberger Postamtsbezirk mehr als üblich. 8000 Stunden bezahlte Mehrarbeit dürften es insgesamt werden – erstmals wird auch an einem Sonntag zugestellt.
Mit neun Aids-Toten und 300 Infizierten im Jahr 1990 führt der Kreis Pinneberg die traurige Statistik landesweit an. Es gibt einen Mangel an Ärzten und Pflegekräften, die sich mit dieser Krankheit auseinandersetzen. Die „Aktion Nordlicht“ wirbt am Jahresende für Energiesparlampen. Mit 40 bis 60 D-Mark ist der Kauf teuer, lohnt aber: 5000 Stunden mit üblicher Birne ergeben 130 Mark Stromkosten, die neue Variante kostet 70 Mark.