Kreis Pinneberg. Diskussionsrunde zeigt Probleme der Verkehrswende im „Speckgürtel“. Was die Experten zum 9-Euro-Ticket sagen.

Bei einer Podiumsdiskussion ging es um die ganz großen Fragen in puncto Verkehr. Warum es die Menschen in Zukunft wieder aufs Land ziehen könnte und was das für die Öffis bedeutet.

Kreis Pinneberg: Was fehlt zur Verkehrswende im „Speckgürtel“?

Nicht nur Homo Sapiens seien wir, sondern auch „Homo Mobilis“ – mobile Menschen, angewiesen auf den Verkehr. Das ließ der Hannoveraner Verkehrsexperte Holger Busche kürzlich im Saal des Gemeindehauses der Pinneberger Christuskirche verlauten. Der Anlass: eine Podiumsdiskussion zwischen ihm, Prof. Dr. Jürgen Oßenbrügge vom Institut für Geographie der Universität Hamburg und Regionalplaner Guido Sempell.

Die Veranstaltung vor einer eingeschworenen, gut informierten und kritischen Gemeinde von Bürgerinnen und Bürgern hatte Jochen Hilbert initiiert. Er ist Mitglied des Verkehrsclubs Deutschland und Gründer einer Bürgerinitiative gegen die geplante Erweiterung der Autobahn 23. Seine neuerlich veranstaltete Podiumsdiskussion legte den Schwerpunkt auf die Raumplanung in der Metropolregion Hamburg sowie die Zukunftsfähigkeit des Verflechtungsraums.

Was deutlich wird im Pinneberger Gemeindesaal: Die drei geladenen Experten bewerten den Ist-Zustand eher negativ. Oßenbrügge von der Universität Hamburg etwa meint, die Metropolregion spiele im Vergleich mit den Mobilitätskonzepten im Ruhrgebiet oder in Süddeutschland nicht gerade weit oben mit: „Das ist wie mit dem HSV. Das ist keine Bundesliga, die wir hier haben, sondern eher der Versuch, etwas zu machen.“

Kreis Pinneberg: „Die AKN sollte einen S-Bahn-Takt haben“

Guido Sempell, seit 19 Jahren Regionalplaner in der Hamburger Behörde für Stadtentwicklung und Wohnen, macht dafür mangelhafte Organisation verantwortlich. Statt fester planerischer Strukturen gebe es in der Stadtplanung vor allem informelle Zusammenschlüsse, deren Entscheidungen auf Freiwilligkeit und Überzeugungen basieren. „Die Länder müssen ihre Regionalpolitik annähern“, fordert Sempell deshalb. „Sie müssen sich aufeinander zu bewegen. Denn die Frage eines Planungsverbands ist eine Frage der Länder.“

Besonderes Augenmerk legten die Referenten – ebenso wie die Bürger in ihren zahlreichen Rückfragen – auf den Status der Region Pinneberg als „Speckgürtel“ der Metropolregion. Denn wie Oßenbrügge sagt, herrscht „derzeit eine Dynamik, den Autoverkehr in der Kernstadt zu reduzieren, und im Außenbereich gibt es noch immer eine starke Autoaffinität.“

Sempell schließt sich dem an – und bringt vielfältige Maßnahmen aufs Tapet, die der Tendenz entgegenwirken könnten. Fahrradgaragen, der Rückbau von Autostellplätzen und die Taktverdichtung des öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) nennt er. „Die AKN sollte einen S-Bahn-Takt haben“, sagt er. Auch die Ansiedlung von Gewerbe in der Nähe von Haltestellen könne den Menschen am Stadtrand den ÖPNV schmackhaft machen.

Kreis Pinneberg: Was die Experten zum 9-Euro-Ticket sagen

Das könnte sich lohnen, zumal die drei Experten von einer neuen Welle der Sub­urbanisierung sprechen, also davon, dass die Menschen wieder vermehrt aus den Städten in das Umland ziehen. „Vielleicht haben wir eine Trendwende aufgrund der Pandemie-Erfahrungen, Lockdown und Homeoffice“, mutmaßt Oßenbrügge. Wer von zu Hause arbeiten kann und weiß, wie sich eine Quarantäne in der beengten Stadtwohnung anfühlt, zieht womöglich lieber aufs Land.

Dort wiederum lebt es sich ohne Privatwagen schlecht. „Dann könnte es über die Pandemie eine Aufwertung des Autos geben“, so Oßenbrügge. Immerhin hat der Autofahrer im Kreis Pinneberg derzeit einen enormen zeitlichen Vorteil gegenüber Bus- und Bahnreisenden. „Der motorisierte Individualverkehr darf aber nicht wieder Träger der Mobilität werden. Das funktioniert nur, wenn wir Alternativen bieten“, so der Professor.

Dass die Einführung des 9-Euro-Tickets in die richtige Richtung weist, bezweifeln die Podiumsdiskutanten. Das Billett sei eine nette Sache, aber fragwürdig, ob der gemeine Bahnreisende damit nun nach München fahren können müsse. Ein von der Politik nicht vollständig durchdachter Laborversuch – das sei das 9-Euro-Ticket. „Aber: Die günstigen Fahrpreise entfalten natürlich eine Wirkung, genauso wie teurer Diesel eine Wirkung entfaltet“, gibt sich Oßenbrügge optimistisch.