Kreis Pinneberg. Die Evangelisch-Lutherische Kirche Norddeutschlands versucht mit neuen Projekten dem Mitgliederschwund entgegenzusteuern.

Eine Studie stellt fest: Die Attraktivität des Christentums leidet unter den Missbrauchsskandalen der katholischen Kirche und ihrer ablehnenden Haltung gegenüber Homosexuellen. Doch nicht nur die Katholiken, auch die Protestanten verzeichnen stetig sinkende Mitgliederzahlen. Schwinden die soziale Bedeutung und der Einfluss der Religion auf das öffentliche Leben? Eine Bestandsaufnahme im Kreis Pinneberg.

Im Kirchenkreis Hamburg-West/Südholstein, der unter anderem die Stadt Pinneberg umfasst, ging die Anzahl der Mitglieder seit dem Jahr 2018 von 208.316 auf 190.117 zurück. Das entspricht einem Verlust von 18.199 Mitgliedern. Die größte Austrittswelle entfällt dabei auf das Jahr 2019. Damals haben mehr als 4400 Menschen dem Kirchenkreis den Rücken gekehrt. Das passt zum bundesweiten Trend: In Relation zur Mitgliederzahl haben 2019 so viele Deutsche wie noch nie die Kirche verlassen. Insgesamt beantragten mehr als eine halbe Million Menschen hierzulande den Austritt.

Aufgrund dieser Entwicklung hat die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) zwischen 2020 und 2021 in einer Studie zum Rückgang der Kirchenmitglieder ermittelt, welche die häufigsten Austrittsgründe sind – überkonfessionell. 1500 ehemalige Protestanten und Katholiken wurden bundesweit befragt, darunter 1000 Menschen, die erst seit 2018 oder später ausgetreten sind.

Ein Grund ist die fehlende religiöse Sozialisation

Zu den konkreten Ursachen für Kirchenaustritte zählen laut der Studie vor allem die kirchlichen Skandale zur sexualisierten Gewalt an Kindern. Gerade in den vergangenen Jahren häuften sich diese Vorkommnisse und wurden oftmals öffentlich verschwiegen. Bei ehemaligen Katholiken zählt laut der EKD „auch die Ablehnung des Katholizismus gegenüber Homosexuellen dazu“. Außerdem gelten Affären um Verschwendung finanzieller Mittel in der Kirche als Anlass für den Abgang zahlreicher Kirchenmitglieder.

Aufgeführt in der Studie sind auch eine ganze Reihe „erweiterter Gründe“. Eines der häufigsten Motive dieser Kategorie ist die fehlende religiöse Sozialisation, etwa die nur sporadisch religiös geprägte Kindheit in einem kirchenfernen Elternhaus. Religion und Kirche spielen im Leben der ausgetretenen Mitglieder schlicht keine Rolle mehr. Auch die mit dem Austritt verbundene Ersparnis der Kirchensteuer zählt zu den erweiterten Gründen. Viele ehemalige Mitglieder sind zudem mit dem Umgang der Kirche bezüglich gesellschaftlicher Anforderungen unzufrieden und begründen ihre Austrittsentscheidung mit dem „Versagen“ der kirchlichen Institution.

Auch der Reformstau in der Kirche führt zur Säkularisierung

Die Austrittsgründe bestätigt Pfarrer Heiko Kiehn, Leiter der katholischen Pfarrei Heiliger Martin, die beinahe deckungsgleich mit dem Kreis Pinneberg ist. „Die Missbrauchsskandale und ihre mangelnde Aufarbeitung, aber auch der Reformstau in der Kirche führen zur Säkularisierung“, sagt er. Das weiß der Pfarrer so genau, weil er jedes Mitglied seiner Pfarrei, das die Kirche verlassen möchte, nach dessen Gründen fragt. „Jeden Kirchenaustritt, der auf meinen Schreibtisch landet, beantworte ich mit einem freundlichen Brief. Dabei geht es mir nicht darum, um das Zurückkommen zu werben. Ich drohe natürlich auch nicht mit der Hölle, wenn jemand die Kirche verlassen möchte“, sagt Kiehn. Stattdessen erfrage er die konkreten Gründe für den Kirchenaustritt und lade ein, darüber ins Gespräch zu kommen. „Mir ist es wichtig, die Gründe mal zu hören. Dann kann ich meine Arbeit reflektieren und eventuell etwas an die Bistumsleitung weitergeben“, erklärt er. „Meist kommen Mails zurück, manchmal auch Anrufe. Vor meiner Tür stand aber noch keiner“, berichtet der Pfarrer.

Die Katholische Kirche hat im protestantisch geprägten Norddeutschland grundsätzlich weniger Mitglieder als die evangelische. „In der Pfarrei Heiliger Martin sind das Pi mal Daumen 19.000 Menschen“, beziffert Kiehn. „Im vergangenen Jahr gab es 439 Austritte. Das kommt schon fast an den Höchststand von 2019 ran.“ Was ihn besonders traurig macht: Nicht allein passive Mitglieder verlassen die Kirche. „Es trifft mittlerweile den ,inner circle’: Menschen, die Jahrzehnte lang engagiert waren“, berichtet er. Kiehn geht davon aus, dass 2021 einige Kirchenaustritte nachgeholt wurden, die 2020 nicht oder nur schwierig möglich waren. Damals war der zum Kirchenaustritt notwendige Besuch der Behörden wegen der Coronapandemie nicht immer möglich.

Die Pandemie ist ebenfalls der Grund für den Anstieg der Taufen von 35 im Jahr 2020 auf 65 im Jahr 2021, sagt Kiehn: „Viele haben gewartet, damit sie auch vernünftig feiern können. Bei den Trauungen war das genau so. 2020 hatten wir nur nur eine, und 2021 elf.“ Grundsätzlich würde aber nicht mehr so viel geheiratet in seiner katholischen Pfarrei, denn „einerseits interessieren sich immer weniger Paare für den kirchlichen Segen und andererseits können einige nicht bei uns heiraten, weil sie schon einmal geschieden sind“, sagt er. Eine zweite Heirat ist in der katholischen Kirche in der Regel nicht zulässig.

Natürlich gehen auch Todesfälle in die Statistik ein. „2021 hatten wir 196 Todesfälle in der Pfarrei und 439 Mitglieder haben uns verlassen. Wenn Sie diese Zahlen für sich nehmen, kommen Sie auf ein Minus von 635 Kirchenmitgliedern“, so Kiehn. Taufen, Zuzüge und Wiederaufnahmen müsse man aber gegenrechnen.

Skandale der katholischen Kirche färben auf die evangelische Kirche ab

Ähnlich sieht es im Evangelisch-Lutherischen Kirchenkreis Rantzau-Münsterdorf aus. Er deckt in der Region die Gebiete Elmshorns und Barmstedts ab. Hier entfällt der Schwund von 532 Kirchenmitgliedern im Kreis Pinneberg aus dem Jahr 2021 knapp zur Hälfte auf Verstorbene. Derzeit verzeichnet der Kirchenkreis noch 27.544 Mitglieder in Elmshorn und Barmstedt (Stand März). Dem Schwund stehen nur wenige Neuzugänge gegenüber. Gerade einmal 19 Menschen aus dem Kreis Pinneberg wurden 2021 in den Kirchenkreis Rantzau-Münsterdorf aufgenommen.

Thielko Stadtland, Propst im Kirchenkreis, bedauert jeden Austritt, sagt er. Die Gründe für den Mitgliederschwund seien divers. „Früher war man einfach Kirchenmitglied und hat das nicht hinterfragt – aber heute hinterfragen wir ja alles“, so Stadtland. Das führe zu einem steigenden Anteil hochverbundener Gläubiger und nur noch wenigen eher passiven Kirchenmitgliedern. „Außerdem ist der demografische Wandel nicht zu unterschätzen. Es sterben derzeit mehr Menschen, als Kinder evangelisch getauft werden“, erläutert der Propst.

Überdies lösen sich Mitglieder wegen der Skandale der Katholiken von der Kirche, sagt er: „Teilweise können die Menschen gar nicht unterscheiden zwischen der evangelischen und der katholischen Kirche. Schlechte Presse für die Kirche ist also immer negativ für alle.“

Apropos schlechte Presse: Stadtlands Kirchenkreis Rantzau-Münsterdorf fiel zuletzt wegen veruntreuter Gelder auf. Die Verantwortlichen haben ihre Ämter bereits niedergelegt. Ob daraufhin Mitglieder abgewandert sind oder es noch tun werden, steht aus. „Es sind Fehler passiert, die wir aber aufgearbeitet haben“, beteuert Stadtland. „Ich hoffe sehr, dass das als Einzelfallgeschichte wahrgenommen wird. Es ist nicht die ganze Kirche so.“