Helgoland. Drei Jubiläen würdigt die Insel 2022. Im zweiten Teil der Serie spricht Bürgermeister Jörg Singer über den bevorstehenden Wandel.
Nachdem Großbritannien Helgoland 1952 an Deutschland zurückgegeben hatte, lockte das Seebad Tagesgäste und Urlauber. In den 90er-Jahren brach der Tourismus ein, mit der Windenergiebranche ging es wieder aufwärts. Künftig soll grüne Wasserstoff-Gewinnung eine große Rolle spielen. Das Abendblatt sprach mit dem scheidenden Bürgermeister Jörg Singer über den Wandel auf seiner Insel.
Herr Singer, was macht die Insel aus Ihrer Sicht eigentlich so einzigartig?
Jörg Singer: Vier Elemente: Die besondere Lage weit draußen auf See, die frische Meeresluft, die guten langjährigen Verbindungen zu den vier Nordbundesländern im Kontext Forschung, Energie, Wirtschaft und Politik sowie die wechselvolle Geschichte Helgolands.
Sie sind mit zwölf Jahren vom Bodensee nach Helgoland gezogen, gingen dort zur Schule. Wie war das damals für Sie, auf eine kleine Insel im Norden zu kommen? Welche Erinnerungen an Ihre Kindheit und Jugend sind Ihnen die liebsten?
Jörg Singer: Anfangs fühlte ich mich etwas verschleppt auf einen Felsen und vermisste das Radeln und die Berge. Aber ich fand schnell neue Freunde und entdeckte die Faszination des Segelns und Surfens. Die Insel mit ihren vielen natürlichen Meeresenergien und der Spannung aus Vergangenheit und Zukunft inspiriert mich bis heute jeden Tag aufs Neue.
Wie hat sich Helgoland seither verändert?
Jörg Singer: Ende der 70er endete die Blütezeit nach dem Wiederaufbau der bis 1952 bombardierten Felseninsel. Sich neuen und künftigen Herausforderungen, wie einem globaler werdenden Tourismus in gleichem Maße engagiert zu stellen, geriet aus dem Fokus. Ende der 90er-Jahre waren Butterfahrten nach Helgoland plötzlich nicht mehr angesagt, der Tourismus brach ein, viele Helgoländer kehrten der Insel den Rücken…
Wie ging es dann weiter?
Jörg Singer: Es folgte ein Niedergang. Der Tagestourismus brach ein von 700.000 auf weniger als 300.000 Gäste. Butter wurde auf der Straße aus Kartons verkauft. Masse war nicht mehr gefragt. Ein qualitatives Urlaubsangebot zu entwickeln, begann später als auf anderen Nordseeinseln.
Als Sie vor zwölf Jahren das Bürgermeisteramt antraten, gab es ein Umdenken, nicht ausschließlich auf Tourismus zu setzen, sondern auf grüne Energie. Damals wurden Sie von manchen für diesen Ansatz belächelt...
Jörg Singer: Das stimmt. Viele sagten „lass mal … dat sind Tetje mit di Utsichten“ und waren auch überzeugt, der Tourismus sei krisensicher. Wir wurden gerade eines Besseren belehrt. Mein 2011 begonnener Plan klingt heute banal. Das Kerngeschäft Tourismus qualitativ und ganzjährig ausbauen, die Meeresforschung fördern und mit Offshorewind ein weiteres Standbein schaffen. Gesundheit ist übrigens der nächste Entwicklungsbaustein.
Inwiefern? Als jod- und sauerstoffreiche Insel werben Sie ja schon mit dem Slogan „(K)Urlauben vom Feinsten“.
Jörg Singer: Wir werden unser Gesundheitsangebot zukünftig sektorenübergreifend ebenso wie Medizin, Prävention und Heilung für Urlauber anbieten. Näheres gibt es in Kürze, ich darf hier das Land nicht überholen.
Sprechen Sie eigentlich Halunder?
Jörg Singer: Ik kan enn betjen snakke
Einerseits sind die Helgoländer traditionsverbunden, andererseits zeigt sich die Insel international und innovativ, etwa in der Forschung. Wie gelingt der Spagat?
Jörg Singer: Die Helgoländerinnen und Helgoländer sind von Natur aus sehr weltoffen. Daher sind wir heute ein kleines Land mit 34 Nationalitäten, darunter Talente, die es reizt, die Tradition mit der Moderne zu verbinden. Ein gutes Beispiel sind unsere Börteboote. Eins davon feiert dieses Jahr seinen sechzigsten Geburtstag. Vor zwei Jahren wurde dem Vollholzboot ein Elektromotor eingebaut. Anfangs gab es hier viele Kritiker. Ohne Gestank und Krach ist der „ePirat“ heute bei unseren Inselrundfahrten und unseren Skippern der absolute Renner.
Viele Helgoländer waren anfangs skeptisch gegenüber Offshore. Wie ist das heute?
Jörg Singer: Gute Skeptiker sind wichtig. Nur dann gelingt der Wandel. Anfangs war die Furcht groß, das Offshore dem Tourismus auf der Insel schaden könnte. Das Gegenteil war der Fall. Seit 2008 sind – trotz Offshore – die Tourismuszahlen um 25 Prozent gestiegen. Die Insel wurde modernisiert, ebenso wie alle unsere Bäderseeschiffe. Wir haben jetzt schnelles Internet und können sogar die Inselbewohner bei den hohen Lebenshaltungskosten zum Beispiel bei der Fernwärme entlasten.
Die Reaktionen auf Ihre Entscheidungen erfolgen wahrscheinlich unmittelbar und sehr direkt. Schließlich kann man sich auf einer so kleinen Insel schlecht aus dem Weg gehen. Bei welchen Entscheidungen haben Sie am deutlichsten Gegenwind bekommen?
Jörg Singer: Der Bürgermeister entscheidet nicht, sondern die Politik. Zwar habe ich kein Stimmrecht, konnte mich mit Überzeugungskraft bei wichtigen Weichenstellungen auf meine Ratsmitglieder verlassen. Auch wenn man sich einstimmige Beschlüsse wünscht, ist es wie beim Sport, es reicht ein hauchdünner Vorsprung. Bei knappen Mehrheiten gibt’s dann auch mal viel Gegenwind. Dem muss man standhalten. Und es gibt Neuerungen, die sind sehr umstritten. Etwa unser Geschichts-Unterland-Bunkerstollen, den wir dieses Jahr eröffnen. Darin wird das Spannungsfeld von Krieg und Frieden gezeigt – im Kurzformat. Damit sprechen wir auch Tagesgäste an und wecken ihr Interesse für einen längeren Folgebesuch, um mehr über Helgoland zu erfahren, etwa bei einer Führung durch die Bunker auf dem Oberland.
Und was sagen die Kritiker?
Jörg Singer: Keiner geht mehr ins Oberland. Das sei Wettbewerb zum Oberlandbunker. Der Felsen rutscht ab. Wir haben schon zu viele Baustellen und vieles mehr.
Wie allen Städten und Gemeinden machen steigende Baukosten auch Helgoland zu schaffen. Wie begegnen Sie diesem Problem?
Jörg Singer: Wir sind in der zweiten Wiederaufbauphase. Jetzt kommt das in die Jahre, was nach dem Krieg mühevoll aufgebaut worden ist. Wir bauen aktuell eine neue Feuerwache, planen eine neue Kita. Beton war schon in den letzten Jahren viermal so teuer wie auf dem Festland. Da es in vielen Ländern der Welt ähnlich ist, werden die Preise weiter steigen. Da hilft nur „positives Querdenken“. Unser größtes Wohnraumprojekt am Leuchtturm haben wir modular gebaut – mit 95 Prozent recyclingfähigen Materialien wie Holz und Zink. Beton steckt nur noch im Fundament. So sind wir in den Kosten geblieben und haben obendrauf 40 Prozent CO2 gespart.
Wie grün ist Helgoland?
Jörg Singer: Wir sind „halbgrün“ und bei etwa 50 Prozent auf dem Weg zu unserem Ziel. Seit vielen Jahren sind wir bereits Elektromobilitäts- und Voll-LED-Insel, auch der Strom ist grün. Noch erzeugen wir Fernwärme aus Heizöl. Die jährlich anlandenden 2000 Tonnen Öl würden wir gerne bis 2026 durch etwa 1000 Tonnen grünen Wasserstoff ersetzen. Das, was für die Wärme nicht benötigt wird, könnte in unsere maritime Mobilität fließen, denn die macht den Löwenanteil unseres gesamten insularen Klimafußabdrucks aus. Ein Forschungsprojekt bei der großen Zehn-Gigawatt-Aquaventus-Vision wird die Kernfrage beantworten, wie wir neben der Wärme auch unsere Dünenfähre, Versorgungsschiffe und Offshore-Wasser-Taxis möglichst klimaneutral betreiben können.
Helgoland will bis 2030 CO2-neutral sein. Ist das realistisch?
Jörg Singer: Wir setzen auf Wasserstoff, der aus Wind produziert wird. Auch wenn es das heute in Deutschland praktisch noch nicht gibt. Der Energiehunger ist riesig, daher bin ich sicher, auch klimafreundlicher Wasserstoff wird schon in diesem Jahrzehnt preislich attraktiver. Allerdings müssen die Spielregeln dafür noch erfunden werden. Darin waren wir in Deutschland in den letzten Jahren nicht gerade Weltmeister. Wenn wir Vorzeigeland werden wollen, müssen wir uns sputen. Helgoland kann das im Kleinen. Auch wenn es bei uns Stimmen gibt, „Wasserstoff Ja, aber bitte woanders“.
Und wo werden Sie dann sein?
Jörg Singer: Ich bin vor zwölf Jahren nicht aus Bayern heimgekehrt, um meiner Lieblingsinsel jetzt wieder den Rücken zu kehren. Gerne möchte ich helfen, dass Helgoland grüner und nachhaltiger wird. In der Stiftung Lange Anna werde ich mich engagieren. Meine genauen weiteren Fahrpläne für die Zeit nach dem Bürgermeisteramt stehen noch nicht fest.
In der Nordsee vor Helgolands Küste sollen ab 2035 jährlich eine Million Tonnen grüner Wasserstoff produziert werden, so Ihre Vision. Helgoland soll zum Zentrum der deutschen Wasserstoffwirtschaft werden. Ist das nicht utopisch?
Jörg Singer: Virtuell und ideell sind wir das schon heute. Mehr als 1000 Köpfe aus 90 Mitgliedsorganisationen unseres Vereins schmieden in Projekten und Konsortien Pläne für die Umsetzung dieser Vision. Aquaventus wurde vor genau zwei Jahren auf Helgoland erfunden. Wir alle brennen für grünen Wasserstoff aus Meereswind. Die Idee, hier draußen grünen Wasserstoff zu erzeugen, ist faszinierend, weil es dem Energiesystem in Deutschland enorm helfen kann. Weit draußen im Entenschnabel gigantische Stromtrassen zu verlegen, hat ökonomisch und ökologisch keinen Sinn, zumal ein Stahlrohr viel schneller gebaut und verlegt ist. Wenn es Robert Habeck möchte, schenken wir ihm mit einer Million Tonnen grünen Wasserstoff einen Zeitvorsprung von zehn Jahren bei der Umsetzung der Energiewende.