Diese Weihnachtsfeier werden die Lokalreporter Tiffany und Timo so schnell nicht vergessen – und das hat gleich zwei Gründe.

Wir schreiben das Jahr 1420. Die stolzen Hansestädte Hamburg und Lübeck schreiten mit 4000 Söldnern zur Eroberung des kleinen, aber strategisch bedeutsamen Bergedorf. Seit Langem sind ihnen die hohen Zölle der hier herrschenden Herzöge aus Sachsen-Lauenburg ein Dorn im Auge. Im Schloss leisten nur 40 tapfere Wachsoldaten den hanseatischen Truppen über vier Tage tapferen Widerstand. Helft ihnen, den verschollenen Schlüssel zum Geheimgang zu entdecken.“

Tiffany lässt die Pergamentrolle sinken. Ihr leicht verklärter Blick wandert durch den schummrig erleuchteten Speisesaal. Seit dem aufwendigen Umbau im letzten Jahr hat sich das altehrwürdige Schloss ziemlich herausgeputzt. Die Ausstellungen über alte Stickmuster oder Tonarbeiten der letzten Jahrhunderte scheinen nun woanders stattzufinden. Mit ein wenig Phantasie könnte hier die norddeutsche Version der britischen Serie „Downton Abbey“ spielen. Fehlen nur noch das dezente Glöckchen und Butler mit Silbertabletts.

„Wildschweinbraten!“ Mit der rechten Hand deutet Timo auf die opulent gedeckte Tafel in der Mitte des Raumes. Den anderen Arm hält er schon eine Weile auf dem Rücken.

„Ih, mit Kopf!“, ekelt sie sich. „Da bin ich aber froh, dass wir gerade richtig guten Flammkuchen hatten.“

„Das Steak war auch nicht zu verachten! Und die Crème brulée erst! Da hat sich die Bergedorfer Lokalredaktion nicht lumpen lassen.“

„Vor allem, dass sie Kollegen aus dem Norden dazu gebeten hat.“

„Meine liebe Kollegin aus dem Südosten …“

„… da, wo in Hamburg die Sonne aufgeht.“

„Jaja“, entgegnet Timo augenrollend. „Wie du weißt, hat jede Lokalredaktion anstatt der üblichen Weihnachtsfeier regionale Gastro-Gutscheine verteilt – mit der Auflage, sich in kleinen Abteilungen zu treffen und …“

„… in der ersten Januarwoche möglichst einen Kollegen oder eine Kollegin anderer Redaktionen einzuladen, schon klar.“ Tiffany lächelt ihn an und spürt, dass ihre Wangen nicht nur vom Rotwein glühen. „Du kannst dich bei Heiner bedanken.“

„Ach … nur bei Heiner?“

„Wer weiß das schon so genau?“ Ungeduldig raschelt sie mit dem Papier. „Zurück zum Spiel!“

„Hast du denen im Restaurant eigentlich Bescheid gesagt, dass wir hier noch rein sind?“

Erstaunt blickt sie vom Zettel zum verschlossenen Eingang. „Nein, wieso? Hast du nicht?“

„Ich wollte, aber eben war in der Küche dicke Luft. Der Chef war bis in die Bar zu hören. Irgendwie scheinen seit Kurzem Sachen aus deren Lager zu verschwinden.“

„Oh.“

„Apropos: Bevor unser Wein verschwunden wäre, habe ich die letzte Flasche mal mitgenommen.“ Umgehend greift er nach zwei Kristallgläsern vom Tisch, wischt diese mit einer Stoffserviette aus und schenkt großzügig ein. „Egal. Die werden uns schon finden.“ Mit pompöser Geste erhebt er sein Glas.

„Hast du auch Aspirin mitgehen lassen?“, fragt Tiffany nippend.

„Wir haben doch gut gegessen.“

„Schade, dass die anderen schon losmussten“, seufzt sie. Leonie vom Lokalsport, Yasmin aus Geesthacht und Heiner hatten sich nach dem Digestif verabschiedet.

„Die hatten nur keine Lust auf dieses Spielchen.“

„Und auf das Artikelschreiben danach.“

„Es ist wie es ist, meine Holde. Du wirst dich nun leider mit mir begnügen müssen.“ Timo zieht zwei der Stühle zurück und bietet ihr einen Platz an. „Jetzt zeig mal her.“ Dicht nebeneinander beugen sie sich über den Text. „Bei diesen Escape-Spielen muss man immer etwas suchen. Nur was?“ Tiffany nimmt sein Aftershave wahr und mahnt sich zur Konzentration. „Da ist ein Wappen.“ Timo deutet auf die Stelle. „Mit drei Bäumen.“

„Stimmt! Wir müssen bestimmt das alte Bergedorf-Wappen finden.“

„Dann los.“

Vom Kronleuchter der Stuckdecke, über die Geweihe an den crème-weißen Wänden bis zum Parkettfußboden inspizieren sie jeden Winkel. Timo nimmt die Anrichten aus edlem Nussbaumholz in Augenschein. Tiffany scannt alle Objekte auf der Tafel. „Da! Ich hab’s!“ Stolz reckt sie eine Saucière in die Höhe. Auf dem Boden des Gefäßes sind drei Bäume zu erkennen.

„Super! Und jetzt?“

„Auf der Unterseite steht ein ,A’!“ Sie prosten sich zu. „Das müssen wir hier eintragen.“

Kaum hat Tiffany die Saucière wieder abgestellt, öffnet sich die schwere Tür zum nächsten Zimmer.

Timo tritt über die Schwelle. „Abgefahren!“ Vier täuschend echte Fackeln tauchen eine dunkel vertäfelte Waffenkammer in gedämpftes Licht. „Du die Waffen, ich die Ritterrüstungen, okay?“

„Wird erledigt!“ Tiffany deutet einen militärischen Gruß an. Stück für Stück widmet sie sich den Lanzen, Schwertern, Äxten und Streitkolben. Die Inspektion der vier Ritterrüstungen verläuft nicht gerade geräuschlos. Timo öffnet jedes Visier, hebt die blechernen Arme an, rüttelt an den Brustpanzern.

„Guck mal, Kollegin. Hier auf dem Schild.“ Sie starrt zu dem goldenen Schutzschild, auf dem ein schwarzer Löwe von roten Herzen umrahmt wird. Das majestätische Tier thront auf drei Bäumen.

„Dreh es um!“

„Ein ,L’.“

„Super!“

„Und ein Hinweis: ,Nun hoch Hanseat – vorbei an den Schlachten’.“

Sobald er das Schild wieder gewendet hat, schnappt die Tür zum Speisesaal zu und der Zugang zum Treppenhaus springt auf. Entfernte Kampfgeräusche sind zu vernehmen. Schwere Samtvorhänge in Dunkelgrün verdunkeln die wenigen Fenster. An den Steinwänden hängen Geweihe, ein amtlicher Hirschkopf und das Ölgemälde eines Herrschers mit Pagenschnitt und Micro-Pony. „Heinrich der Löwe“, liest Timo im Vorbeigehen. Auf den abgetretenen Stufen in die nächste Etage lässt er Tiffany den Vortritt. Mit jedem Schritt nimmt der Lärm zu: Säbelrasseln, Explosionen, Schreie. Oben bietet sich ihnen ein Bild der Zerstörung: Zerfledderte Vorhänge mit Rußflecken flattern hin und her. Blitze zucken. Auf dem zersplitterten Holzboden verteilen sich zerbrochene Steine. Zwei Ritterrüstungen liegen herum – in einem Rückenpanzer steckt eine Lanze.

„Achtung!“ Timo deutet über sich. An der abgesperrten Wendeltreppe hängt ein täuschend echt wirkender Schlosswächter mit gespanntem Bogen.

„Wir müssen weiter“, drängt sie. „Nun hoch Hanseat – vorbei an den Schlachten“.

Kaum hat sich die nächste Tür geöffnet und wieder hinter ihnen verschlossen, geht der Schlachtenlärm in gedämpfte Cembaloklänge über. Tiffanys Augen müssen sich zunächst an das warme Licht gewöhnen. „Wo sind wir denn hier gelandet?“

„Die Schlacht scheint geschlagen“, stellt Timo fest und sieht sich um. Alle vier Wände zeigen eine Stadtansicht von Häusern mit Treppengiebeln. In den Ecken stehen Modelle alter Segelschiffe. Die Raummitte wird von einem wuchtigen Tor dominiert. „Lübeck, das soll bestimmt Lübeck sein. Das ist das Holstentor.“

„Und wo geht’s dorthin?“ An zwei Wachsoldaten vorbei huscht Tiffany über vier Holzstufen in den anschließenden Bereich. „Hamburg! Die haben Hamburg auf die Wände gemalt.“

„Und den Hafen in die Mitte gebaut.“ Timo wirft einen kurzen Blick in den Raum.

„Oh! Wenn man die Knöpfe drückt, passiert was.“ Begeistert lässt Tiffany ein Schiffshorn ertönen. „Ich liebe sowas in Museen!“

„Ich kümmere mich dann mal um Lübeck.“

„Aye Aye, Sir.“

„Hör mal zu“, ruft er nach einigen Minuten. „Über vierhundert Jahre wurde Bergedorf von Hamburg und Lübeck gemeinsam verwaltet.“

„Das weiß in Bergedorf jedes Kind.“

„Ach ja? Auch, dass im siebzehnten Jahrhundert jeder Bürger ein Gewehr besitzen musste, um die Stadt zu verteidigen?“

„Vielleicht hab’ ich auch noch eins?“ Tiffany grinst zu ihm herunter. Dabei fällt ihr etwas ins Auge. „Ach nein, was haben wir denn da? Drei Bäume! Auf dem Lauf!“ Sie greift nach dem Gewehr des Wachsoldaten und dreht es um.

„Ein ,K’!“

„Fantastisch!“ Timo füllt erneut die Gläser. „Cheerio, Miss Sophie!“

„Mister Winterbottom.“ Nach einem Schluck landet das Gewehr wieder beim Soldaten. Sofort öffnet sich die nächste Tür.

„Land … herren … zimmer“, liest Tiffany mit zusammengekniffenen Augen. Langsam sollte sie mit dem Trinken besser aufhören.

„,Dascha gediegen’, hätte meine Uroma gesagt.“ Auch Timos Zunge wird hörbar schwerer. Trotzdem bestaunt er die kunstvoll mit Intarsien vertäfelten Wände und die blau-weißen Fliesen.

„Das hier war bestimmt der Chefsessel … also vom Landherrn.“ Tiffany stützt sich auf die hohe Stuhllehne.

Timo betrachtet die aufwändige Stickerei auf dem Polster. Freudestrahlend dreht er es um. „Et voilà! Ich kaufe ein ,O’.“

„Wunderbar“, freut sich Tiffany und kritzelt den Buchstaben hin. „Jetzt haben wir ;ALKO’.“

„Der nächste Buchstabe is‘ ein ,H’“, stellt Timo fest. „Garantiert!“

„Was, wenn nich‘?“

„Dann trink‘ ich Tollkirschenschnaps … auf Ex. Mit Opa Hinnerk.“

„Na, ob er das auch will?“ Tiffany runzelt die Stirn, während Timo das Kissen wieder sinken lässt. Nur eine Sekunde später schiebt sich ein Kachelofen zur Seite. „Weiter geht’s, junger Mann.“

„Mylady, ich folge Ihnen unauffällig.“

Im nächsten Zimmer zeigt Timo auf ein dunkelgrünes Kachel-Ungetüm, das fast bis zur Decke reicht. „Aber wir müssen jetzt nich’ durch den Kamin da krabbeln, oder?“

„Mit ‘n büschen Flohpulver bist du ruckzuck in Hogwarts. Bei Harry Potter.“

„Wir suchen Bäume, meine Liebe. Drei Bäume.“

„Guck mal da, die kleine Schulbank.“ Angestrengt inspiziert Tiffany Lederranzen, Tintenfass und zwei Schiefertafeln. Timo verharrt beim Kachelofen. Auf dem Etikett der Tinte macht sie eine Entdeckung.

„Timo?“

„Jo!“

„Schnaps mit Opa?“

„Nee!“ Mit einem Satz ist er neben ihr. „Was steht da?“

„Ein ,V’.“

„ALKOV? Was’n das?“

„Fehlen nur noch zwei Buchstaben.“ Tiffany stellt das Tintenfass zurück.

„Megatechnik“, bemerkt Timo mit Blick auf den sich verschließenden Weg zum Landherrenzimmer.

Durch eine geöffnete Schiebetür betreten sie den nächsten Abschnitt. Schlagartig verändert sich die Raumtemperatur. „Wieso is’n das so warm hier?“ Tiffany berührt ihre erhitzten Wangen.

„Viel Grünzeug“, stellt Timo nach einem Rundumblick fest.

„Und Krabbelviecher.“ Sie starrt in einen Schaukasten mit verschiedenen Käferarten.

„Okay, ich such hier rechts. Du da links.“

„Alles klar.“

Langsam arbeiten sie sich durch Flora und Fauna. Auf die Käfer folgen Raupen. Dann Schmetterlinge.

Timo bleibt vor einem Gemälde stehen. „Guck mal, früher gab’s hier Gewächshäuser. An den Schlossmauern.“

„Und Bäume?“

„Klar, überall gab’s Bäume.“

„Das Wappen, du Schlaumeier!“

„Meinst du das hier?“ Triumphierend reckt er eine Metallgießkanne in die Höhe. „Oben drei Bäume … unten ein ,E’.

„,ALKOVE’ … was wollen die von uns?“ Sie runzelt die Stirn.

„Keine Ahnung.“ Timo beobachtet, wie sich mit Absetzen der Kanne die nächste Tür öffnet und die Schiebetür verschließt.

Tiffany schlurft in die angrenzende Kammer. „Echt dunkel hier.“ Sie kann ein aufkommendes Gähnen nicht unterdrücken.

„Is’ Klein-Tiffany schon müde?“, flüstert Timo in ihr Ohr.

Ihr Kopf sinkt auf seine Schulter. „Wie spät?“

Er legt den Arm um sie. „Weiß nich’, die Handys sind unten.“

„Ach ja, inner Kiste.“

„Beim Essen ansehen und reden“, wiederholt er die Worte des Kellners.

„Dann los.“

„Wie jetzt?“

„Guck mich an und red’ mit mir.“

„Okay“, willigt er ein und stellt sich vor sie, ohne seinen Arm von ihrer Schulter zu nehmen.

„Moment.“ Tiffany zieht ihn ein paar Schritte zurück, bis sie mit dem Rücken an die vertäfelte Wand stößt. Auf Hüfthöhe springen plötzlich zwei Türen auf. „Huch!“, erschrickt sie. Geistesgegenwärtig fasst Timo um ihre Hüften und hebt sie hoch. „Hey, was machst du?“, protestiert Tiffany. Erschrocken dreht sie sich um und streicht über eine bezogene Daunendecke. „Ist das ein Bett?“

Mit einem Satz schwingt er sich neben sie. „Sieht so aus.“

„Und … was passiert jetzt?“

„Jetzt, Frau Kollegin aus dem Südosten, genau jetzt wird Ihr Kollege aus dem hohen Norden Sie küssen.“

„Ach ja?“ Herausfordernd blinzelt sie ihn an. „Und wenn der Südosten das nich’ will?“

„Ist das so?“

                 ***

„Tollkirsche war leider aus“, schmunzelt Timo und prostet Opa Hinnerk zu.

„Hauptsache, das is’ kein geklauter Rotwein.“ Opa verzieht keine Miene und nippt an seinem Römerglas. „Habt ihr schon inne Zeitung gelesen?“

„Opa.“ Tiffany hockt neben Timo auf dem schweren Cordsofa. Mit Abstand. „Wir MACHEN die Zeitung. Der diebische Kellner hat uns vorgestern noch bedient.“

„Bin noch nich’ weiter wie die Schlagzeile gekommen. Was war denn da los?“

Tiffany berichtet von ihrer nächtlichen Entdeckungsreise im Schloss. Die Stunden im Schrankbett lässt sie dabei aus.

„Nachts bin ich aufs Klo. Da sehe ich durch das Minifenster, wie sich unten im Hof eine Tür öffnet und unser Kellner rauskommt. Mit einer Kiste Wein unterm Arm und einer Tasche.“

„Das Diebesgut!“

„Weil wir ja eingesperrt waren, hab ich rübergerufen und ans Fenster geklopft.“

„Und dann?“

„Weg war er!“

„Und wie seid ihr da rausgekommen?“

„Mit dem albernen Schlüssel in diesem Schrankbett leider nicht.“

„Am nächsten Morgen stand der Restaurantchef im Hof“, ergänzt Timo und legt den Arm um Tiffany. „Deine Enkelin hat ihm von ihrer Beobachtung erzählt, und der hat sofort der Polizei Bescheid gesagt.“

„Die Wohnung des Kellners war ein richtiges Warenlager. Der hätte bald seinen eigenen Laden aufmachen können.“

„Und?“ Opa grinst verschmitzt. „Wie schläft es sich denn so im Schloss?“

„Gar nicht so ungemütlich, so ein ALKOVEN.“