Henstedt-Ulzburg. Mehr Diplomatie, weniger Waffen: SPD-Bundestagsfraktionschef Rolf Mützenich beschwor in Henstedt-Ulzburg ein Ende des Ukrainekriegs.
Er gilt als die „Friedenstaube“ im Bundestag, hat sich lange gegen die Lieferung schwerer Waffen in das ukrainische Kriegsgebiet ausgesprochen und war viele Jahre abrüstungspolitischer Sprecher seiner Fraktion. Für diese Haltung hat der SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich viel Kritik einstecken müssen.
Doch die Parteibasis steht auf seiner Seite, wie sich jetzt bei einer Diskussionsveranstaltung zeigte, zu der der Norderstedter Bundestagsabgeordnete Bengt Bergt die beiden Fraktionsvorsitzenden Mützenich aus Berlin und Serpil Midyatli aus Kiel in das Bürgerhaus nach Henstedt-Ulzburg einlud. Immer wieder erntete der Berufspolitiker aus Köln für seine moderate Position großen Applaus von den etwa 80 Besuchern.
SPD: Rolf Mützenich sieht Parallelen zu Verdun
„Sie scheinen ja der einzige im Bundestag zu sein, der über Möglichkeiten einer Friedensfindung im Ukraine-Krieg überhaupt nachdenkt und kriegen dafür von Freund und Feind auf die Mütze“, sagte ein Zuhörer nach Mützenichs halbstündigen Ausführungen, in denen er vor einem weiteren jahrelangen Stellungskrieg in der Ukraine warnte. „Das entwickelt sich ähnlich wie damals im Ersten Weltkrieg bei Verdun, als der militärische Konflikt nur wenige Kilometer hin und her ging“, sagte der Abgeordnete, der promovierter Politikwissenschaftler ist.
Die Genossen an der Basis in der norddeutschen Provinz schienen ihn zu mögen. Eine Frau aus der ersten Reihe beeilte sich direkt vor seinem Auftritt an die kleine Bühne heran, um ein Autogramm von Mützenich zu ergattern. „Das ist schon mein zweites rotes Autogrammbuch“, sagte sie stolz. Und Mützenich schrieb ihr rasch ein paar nette Worte in das Buch hinein. Auch die zum Teil sehr dezidiert vorgetragenen und nachdenklichen Fragen danach hinterließen den Eindruck im Saal, als wollten die Zuhörer in Henstedt-Ulzburg die Eskalations-Rhetorik vieler Politiker nicht mehr hören und sehnten eine Anbahnung von Friedensverhandlungen zwischen Russland und der Ukraine mit den USA und der Nato an ihrer Seite herbei.
Mützenich: „Jüngere Kollegen haben Angst vor einem Atomkrieg“
„Ich wünsche mir, dass auch jüngere Abgeordnete im Bundestag diplomatischere Töne anstimmen“, sagte ein Zuhörer. Die gebe es durchaus, aber die könnten sich ruhig etwas lauter äußern, sagte Mützenich mit einem Seitenblick auf den Fraktionskollegen Bengt Bergt. So hätten einige dieser jüngeren Kollegen sich direkt nach Kanzler Olaf Scholz‘ Rede von der Zeitenwende nach Ausbruch des Krieges Ende Februar 2022 ängstlich mit der Frage an ihn gewandt: „Werden wir in den nächsten Tagen einen Atomkrieg erleben?“
Die seien nicht im Kalten Krieg aufgewachsen, als diese Furcht ständig die Friedensbewegung umtrieb, sagte Mützenich. „Aber dies ist kein Kalter Krieg 2.0. Die Hälfte der Weltbevölkerung schaut ganz anders auf diesen Krieg als wir.“ Er habe versucht, die jungen Genossen zu beruhigen. Die ebenfalls von vielen Seiten kritisierte China-Reise von Kanzler Scholz habe dazu einen guten Beitrag geleistet, sagt Mützenich überzeugt. Präsident Xi habe gegenüber Scholz den Einsatz von Atomwaffen zu einem Tabu erklärt, was den russischen Präsidenten Vladimir Putin, der damit gedrohte, zur Räson gerufen hätte. „Wir dürfen Rüstungskontrolle nicht vernachlässigen“, forderte Mützenich.
Mützenich: „USA haben 2022 den Frieden verhindert“
„Auch dieser Krieg entscheidet sich nicht auf dem Schlachtfeld“, glaubt Mützenich. „Am Ende muss es Verhandlungen geben. Aber man kann sie nicht erzwingen“, sagte er. Seine Beschreibung im Bundestag vom März dieses Jahres, den Krieg „einzufrieren“, der auch bei den Koalitionspartnern einen Sturm der Entrüstung auslöste, wiederholte Mützenich nicht. Lieber sprach er von „Abwesenheit von militärischer Gewalt“, die letztlich nur durch Verhandlungen erreicht werden könnte. Ob die KSZE-Verhandlungen, die vor 50 Jahren in Helsinki eine Entspannungspolitik zwischen den Blöcken ermöglichten, wieder belebt werden könnten, sei fraglich, sagte Mützenich.
Dabei sei Europa schon im März 2022 ganz dicht an einer friedlichen Lösung gewesen, sagte Mützenich auf die Frage eines Zuhörers. In Istanbul hätten sich damals, zwei Wochen nach Kriegsausbruch, die ukrainische und russische Seite stark angenähert und einen Waffenstillstand ausgehandelt, der eine weitgehende Unabhängigkeit der Donbas-Region und eine Nichtaufnahme der Ukraine in die Nato beinhaltete.
Doch die USA hätten die erzielte Vereinbarung torpediert, sagte Mützenich. So wie es auch jüngst Ex-Kanzler Gerhard Schröder in einem Zeitungsinterview erklärte, der nach eigenen Angaben von ukrainischer Seite in diese Verhandlungen einbezogen war. Auch der ehemalige israelische Präsident Naftali Bennett, der die Verhandlungen in Istanbul leitete, bestätigte dies und sagte, der Westen hätte die Verhandlungen abgebrochen, so Mützenich.
Serpil Midyatli: Schuldenbremse lockern, Reichensteuer einführen
Aber es wurde nicht nur über Krieg und Frieden im Ulzburger Bürgerhaus gesprochen. Auch wenn der Ukraine-Krieg durch die große Anzahl an Flüchtlingen zu „großen Verwerfungen hierzulande auch in diesem Wahlkreis geführt hat“, wie Gastgeber Bengt Bergt sagte. Er erinnerte an die humanitären Hilfslieferungen, die ein Speditionsunternehmer aus Henstedt-Ulzburg mehrfach organisiert hatte.
Serpil Midyatli forderte, angesichts zunehmender Rüstungsanstrengungen und einer Erhöhung des Bundeswehretats, dürfe nicht die soziale Infrastruktur in Deutschland weiter vernachlässigt werden. Die Modernisierung von Schulen und Kindergärten dürfe nicht an der Schuldenbremse scheitern. 60 Milliarden Euro umfasse allein in Schleswig-Holstein der Investitionsstau. „Wir brauchen eine Reform der Schuldenbremse und müssen da auf jeden Fall auch über die Vermögenssteuer reden“, sagte sie. Es könne nicht sein, dass die 500 reichsten Deutschen in der Krise noch mehr Vermögen anhäuften, während ein Großteil unter den Preissteigerungen leide. Die SPD wäre dafür. „Wir müssen nur eine Mehrheit dafür bekommen.“