Tangstedt. Marya fleht das Auswärtige Amt an, ihren Bruder zu retten. Seit der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan ist er in Gefahr.

Das Handy hat sie immer dabei. Es liegt auf dem Küchentisch, wenn sie essen macht, im Badezimmer, wenn sie duscht. Und neben ihrem Bett, wenn sie schläft. Wenn sie morgens aufwacht, schaut sie als Erstes auf das Display und kontrolliert, wann ihr Bruder das letzte Mal online war. Wenn es länger her ist als eine Stunde, fängt Marya (44) an, sich Sorgen zu machen. Dann schreibt sie ihm eine Nachricht: „Salam, wie geht es Dir?“

Afghanin bangt um ihren Bruder in Kabul

Marya lebt in Tangstedt, ihr Bruder in Afghanistan, in Kabul. Seit die Taliban die Macht übernommen haben, bangt sie um das Leben von Shamsulhaq (38). Er hat für die afghanische Regierung gearbeitet und musste untertauchen. „Wenn ich könnte, würde ich mit ihm tauschen“, sagt Marya Ullfat. Immer wieder versagt ihr die Stimme, immer wieder wischt sie sich verstohlen über die Augen. Ihr ist es peinlich, dass man sie so sieht. Sie kann an nichts anderes mehr denken als an ihre Familie. Ihre Mutter, ihre Brüder.

So ist es auch am Donnerstag. Sie ist nachmittags bei einer Freundin, um mit ihr einen Aufnahmeantrag für ihren Bruder zu stellen. Das Ministerium für Inneres, ländliche Räume, Integration und Gleichstellung hat angekündigt, Angehörige von in Schleswig-Holstein lebenden Afghanen und Afghaninnen aufzunehmen.

Als Marya gegen 18 Uhr in Bramfeld in ihr Auto steigt, keimt ein bisschen Hoffnung in ihr auf. Vielleicht hat auch ihr Bruder Chancen!? Bevor sie losfährt, will sie auf dem Handy kurz die Nachrichten checken und ihrem Bruder schreiben. Da fällt ihr Blick auf eine Eilmeldung aus Afghanistan. Es hat Anschläge gegeben, Tote. In Kabul. Dort, wo ihr Bruder lebt.

Maryas Familie floh schon einmal aus Afghanistan

Manchmal wünscht sie sich, sie könnte den Menschen beschreiben, wie es ihr geht. Wie sie sich fühlt. Doch sie weiß, dass es keine Worte dafür gibt. Dass niemand verstehen kann, wie sie sich fühlt. Hin und hergerissen zwischen Angst und Wut. Dankbarkeit und Schuldgefühlen. Sie ist dankbar, dass sie in Deutschland lebt. Gleichzeitig hat sie aber genau deswegen auch ein schlechtes Gewissen. „Während ich hier in Sicherheit bin, muss mein Bruder um sein Leben fürchten“, sagt Marya. Sie ist 1999 mit ihrer Mutter und ihren jüngeren Brüdern nach Pakistan geflohen - nachdem ihr Vater beim einem Bombenanschlag ums Leben gekommen war. In ihrem eigenen Haus. Marya war dabei, draußen im Garten.

Sie ist Anfang 20 nach Deutschland gekommen, weil ihr Mann hier Arbeit hatte. Ihre Familie hingegen ging nach den Anschlägen vom 11. September zurück nach Afghanistan, weil sie ich durch den Einzug der UN-Truppen dort sicher fühlte – bis jetzt.

Marya will ihren Bruder aus Afghanistan retten

Sie fühlt sich verantwortlich für ihren Bruder. Sie war immer die große Schwester, hat sich früh um ihre kleinen Brüder gekümmert. Sie macht sich um alle von ihnen Sorgen, am meisten aber um Shamsulhaq. „Auch wenn die Taliban so tun, als ob sie nicht nachtragend seien – das ist gelogen“, sagt Marya. Ihr Bruder hat erzählt, dass zwei seiner Kollegen tot aufgefunden wurden. Andere Regierungsmitglieder seien öffentlich hingerichtet worden. Als Marya das erfahren hat, ist sie zu Hause zusammengebrochen. Ihr Mann musste sie ins Krankenhaus bringen.

Sicherheit wird es in Afghanistan nicht mehr geben, da ist sich Marya sicher. Deswegen tut sie alles, um ihren Bruder aus dem Land zu retten. Immer wieder schreibt sie E-Mails an das Auswärtige Amt, immer wieder ruft sie dort an. 211 mal – allein am Donnerstag vergangener Woche. Am Freitag sind es 217-mal. Doch die Leitung ist immer besetzt. Zweimal hat sie Glück und kommt durch, landet in der Warteschleife – und wird dort rausgeschmissen.

Ihr Bruder musste schon dreimal das Versteck wechseln

Auch an die Evakuierungshilfe und Hilfsorganisationen hat sie sich schon gewendet, und an die Presse. An jeden, der ihr vielleicht helfen könnte. „Ich würde alles tun“, sagt sie und versichert immer wieder, dass sie keine finanzielle Hilfe in Anspruch nehmen würde. „Ich würde komplett für den Lebensunterhalt meines Bruders und seiner sieben Kinder aufkommen“, sagt sie. Marya ist Tagesmutter, ihr Mann Krankenpfleger. Schon seit Jahren unterstützen sie ihre Familien in Afghanistan und schicken immer wieder Geld dorthin.

Als sie das letzte Mal ihrer Mutter Geld schicken wollte, ist die Überweisung zurückgekommen. „Viele Banken in Afghanistan haben den Betrieb eingestellt“, sagt sie und erzählt, dass die Taliban bereits das Haus ihrer Mutter durchsucht haben. Dreimal hat ihr Bruder bereits sein Versteckt wechseln müssen. „Die Taliban wissen alles von ihm. Sein Fingerabdruck, seine Daten, alles hat die Regierung gespeichert. Jetzt sind die Daten den Taliban in die Hände gefallen.“

Manchmal hat sie das Gefühl, dass es kaum noch Hoffnung gibt – doch sie will diese Gedanken nicht zulassen. Es fällt ihr immer schwerer, vor allem seit Donnerstag. Seit die Bundeswehr Afghanistan verlassen hat. „Jetzt ist mein Bruder auf sich allein gestellt“, sagt sie. Seit sie in Deutschland lebt, ist sie alle zwei Jahre nach Hause geflogen. Jetzt scheint es unmöglich geworden zu sein. Am Mittwoch hat ihr Bruder Geburtstag. Er wird 39 Jahre alt.