Norderstedt. Der Henstedt-Ulzburger galt früher als schwer erziehbar. In den Norderstedter Werkstätten fand er den Weg in ein besseres Leben.

Es gab eine Zeit, da lebte Christian Schlaikier in zwei Welten. Unter der Woche trainierte er im Landesleistungszentrum in Hamburg. Er war ein begabter Kugelstoßer, Diskus- und Speerwerfer. Ihm wurde großes Talent nachgesagt. Am Wochenende betrank er sich im Moby Dick – Norderstedts berühmt-berüchtigter Partykneipe, in der sich viele dunkle Gestalten herumtrieben. „Flaschen sind geflogen, es wurde sogar geschossen. Jeden Abend war die Polizei da“, erinnert sich der 46-Jährige. Christian lebte in Widersprüchen. Sie zerrten an ihm. Dann setzte seine Trainerin Maike Rotermund ihm ein Ultimatum, das sein Leben verändern sollte.

Rotermund betreut seit 38 Jahren die geistig behinderten Sportler der Norderstedter Werkstätten. Sie suchte das Gespräch mit Christian. Nach dem Training setzte sie sich mit ihm auf die Tribüne der Leichtathletikhalle in Alsterdorf. „Christian, du bist ein super Sportler“, sagte sie zu ihm. „Ich würde gerne mit dir Öffentlichkeitsarbeit machen. Aber dann bist du ein Vorbild – und das Moby Dick passt nicht mehr zu dir.“ Ein Wochenende gab Rotermund ihm Zeit, um eine Entscheidung zu treffen: Moby Dick oder Sportkarriere?

Christian: Alkohol oder Sportkarriere?

Christian musste nicht lange überlegen. Am nächsten Tag stand sein Entschluss fest. „Das war keine schwere Entscheidung für mich“, sagt er. Er wählte den Sport.

Wer Christian Schlaikier heute erlebt, kann sich kaum vorstellen, dass es Kapitel in seiner Vergangenheit gegeben hat, auf die er nicht stolz ist. Die er am liebsten aus seiner Geschichte streichen würde, weil er sich so sehr für sie schämt. Christian wuchs in Kayhude auf. Mit sechs Jahren ist er auf eine Sonderschule für schwer erziehbare Kinder in Bergstedt gekommen. In einer normalen Grundschule konnte er wegen seiner geistigen Beeinträchtigung nicht mithalten. Er hat sich auffällig verhalten, mit anderen Kindern „Stunk“ gemacht, wie er es nennt. „Ich hatte eine Null-Bock-Haltung und bin schnell aus der Haut gefahren, wenn mich jemand provoziert hat.“ Er erinnert sich noch an eine Situation, in der ein Mitschüler seine Schwester Andrea beleidigt hat. „Da habe ich ihm einen Füller in den Oberschenkel gerammt.“ Christian redet offen über seine Vergangenheit. Er weiß: „Ich war damals kein Unschuldslamm.“

Jedes Wochenende feierte er im berüchtigten Moby Dick

Seine Eltern hatten Probleme, mit ihrem entwicklungsverzögerten Sohn klarzukommen. Eine Therapie im Schwarzwald sollte ihm helfen. Auf einem Bauernhof mistete Christian Kuhställe aus, fütterte die Tiere. Die körperliche Arbeit sollte ihn davon abhalten, auf dumme Gedanken zu kommen. Zunächst schien es zu funktionieren.

Seine nächste Station war das Jugendaufbauwerk in Kellinghusen. Er hat viele Einrichtungen besucht, die ihn zurück auf den rechten Weg bringen sollten. Als Jugendlicher mit 15, 16 Jahren lernte er dort, seine Wäsche selbst zu waschen, zu kochen und zu putzen. Eigenständig zu sein.

Die alten Dämen suchten Christian wieder heim

Doch seine alten Dämonen suchten ihn wieder heim. Im Berufsbildungswerk in Timmendorfer Strand absolvierte er eine dreijährige Ausbildung zum Beikoch. Als Küchenhilfe zerkleinerte er Gemüse, legte Zutaten für die Köche bereit, säuberte das Fleisch. Doch seine Abschlussprüfung bestand er nicht. „Anstatt zu lernen, war ich lieber im Oskar trinken“, erzählt Christian. Oskar war eine Kneipe. Dort hat er auch seine damalige Freundin kennengelernt. Sie wurde ungewollt schwanger. Mit Anfang 20 war Christian plötzlich Vater. Zu seinem Sohn Kevin hat er keinen Kontakt. Den hatte er noch nie. Für ihn ist das in Ordnung. „Ich fühle mich nicht als Vater“, sagt er.

Christian ging zurück in die Heimat. Im Wilhelm-Busch-Hotel in Norderstedt bekam er trotz gescheiterter Ausbildung eine Chance als Beikoch. Doch die anderen Gesellen mobbten ihn. „Sie wollten mich an einen Stuhl fesseln“, erinnert er sich. „Irgendwann bin ich nicht mehr zur Arbeit gegangen.“ Christian haute von zu Hause ab. Seine Eltern wussten nicht, wo ihr Sohn steckte. Im Jugendtreff in Nahe verschanzte er sich, lernte dort die falschen Leute kennen. Gemeinsam ertranken sie ihre Sorgen und ihren Frust im Alkohol. Seine neuen Freunde trugen Bomberjacke und Springerstiefel. Auf offener Straße skandierten sie Nazi-Parolen, die Christian heute aus Scham nicht mehr wiederholen möchte. Damals hat er alles getan, um dazuzugehören. „Wenn sie gesagt haben, ich solle bei Penny Alkohol klauen, dann habe ich das gemacht.“

Neue Freunde mit schlechtem Einfluss

Christian verließ Nahe, zog zurück nach Norderstedt. Dort lernte er neue Freunde kennen – wieder hatten sie einen schlechten Einfluss auf ihn. Seine Party-Zeit im Moby Dick begann. Sie tranken, rauchten, pöbelten.

Zeitgleich vermittelte ihn seine damalige Betreuerin, die ihn regelmäßig in seiner eigenen Wohnung besuchte, von den Werkstätten in Wahlstedt nach Norderstedt. Das war im Jahr 2003. Christian durchlief viele Abteilungen, arbeitete in der Autoaufbereitung und der Schlosserei. Inzwischen ist er in der Lagerlogistik bei Jungheinrich tätig, einer Außenstelle der Werkstätten.

Die Leichtathletik als Lebensretterin

Die wohl wichtigste Veränderung in seinem Leben damals: Christian entdeckte den Sport, den er früher schon so geliebt hatte, wieder für sich. Er schloss sich dem Training, das die Werkstätten organisierten, an. Er lernte Maike Rotermund kennen. Begann mit der Leichtathletik.

Sport begleitete ihn schon sein ganzes Leben. Als Kind spielte er Fußball, Tischtennis und Tennis. „Alles, was mit Bällen zu tun hatte, war mein Ding“, sagt er. Besonders liebte er das Tennisspielen. Er gehörte zu einer Mannschaft, absolvierte mit ihr Punktspiele. „Die Bewegung hat mir sehr geholfen. Endlich habe ich Anerkennung bekommen und gemerkt: Ich kann etwas.“ Doch irgendwann konnte er sich den Mitgliedsbeitrag im Tennisverein in Kayhude nicht mehr leisten und hörte mit Anfang 20 auf. Es begann die Phase, in der er lieber vor dem Fernseher an der Konsole zockte, anstatt Sport zu treiben. Er tauschte Tennisschläger gegen Controller aus.

Volle Konzentration auf den Sport

Dann traten die Norderstedter Werkstätten und die Leichtathletik in sein Leben. Christian stieß die Kugel so weit, ließ die Diskusscheibe so viele Meter fliegen, dass er im Landesleistungszentrum mit anderen geistig behinderten Menschen trainieren durfte. Doch der Beschäftigte der Werkstätten verbrachte an Wochenenden immer noch zu viel Zeit im Moby Dick. Das musste sich ändern. Also stellte Maike Rotermund ihm das besagte Ultimatum. „Von da an habe ich mich voll auf den Sport konzentriert“, sagt Christian. Nach und nach hörte er auf zu trinken, rauchte nicht mehr, brach den Kontakt zu seinen Moby-Dick-Kumpels ab.

Christian hat sich für die Sportkarriere entschieden. Mehrmals wurde er Deutscher Meister bei Leichtathletik-Wettkämpfen des Deutschen Behindertensportverbands. Er war so gut, dass er es 2004 zu den Europameisterschaften nach Paris schaffte und das Trikot mit dem deutschen Bundesadler auf der Brust tragen durfte. „Das hängt immer noch bei mir im Schrank“, sagt er.

Kugelstoßanlage für Christians Kraft zu kurz

Einmal bei einem Hallenwettbewerb der Special Olympics in Hannover musste sogar die Kugelstoßanlage für ihn verlängert werden. Die Organisatoren rechneten nicht damit, dass ein Athlet weiter als zehn Meter stoßen würde. Doch Trainerin Maike Rotermund kannte ihre Sportler, warnte den Veranstalter vor – daraufhin wurden Bänke zur Seite geschoben und die Bahn verlängert. Mehr als zwölf Meter weit hat Christian die Kugel gestoßen. Und das war nicht einmal seine Bestleistung. Die liegt bei über 13 Metern. Die Menschen in der Halle staunten. Wenn Christian diese Geschichte erzählt, grinst er. Auch wenn er es nicht mag, sich selbst zu loben: Stolz ist er auf seine Leistung schon.

Aber das Leben verläuft nicht immer geradlinig. Das weiß Christian nur zu gut. Der Sportler erlitt einen Bandscheibenvorfall, musste zweimal operiert werden. Mit dem Leistungssport konnte er nicht weitermachen. Die Schmerzen waren einfach zu stark.

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Doch er ließ sich von diesem Rückschlag nicht runterziehen, fiel in kein Loch. Nach einer langen Sportpause entdeckte er das Basketballspielen für sich. Beim Inklusiven Sportverein Norderstedt, in dem Maike Rotermund ebenfalls Trainerin ist, schloss er sich einem Unified-Team an – einer Mannschaft, die aus Basketballern mit und ohne Behinderung besteht.

Nach 25 Jahren Pause spielt Christian wieder Tennis

Vergangenes Jahr fand er schließlich zurück zum Tennissport. Seinem geliebten Hobby aus Jugendtagen. Nach 25 Jahren Abstinenz. Christian hat wieder ein Ziel vor Augen, auf das er hinarbeiten kann: Er möchte es zu den Weltspielen der Special Olympics schaffen. Die Wettbewerbe sind vom Stellenwert vergleichbar mit den Olympischen Spielen – nur eben für Menschen mit geistiger Behinderung. Alle vier Jahre werden sie überall in der Welt ausgetragen. Das nächste Mal 2023 in Berlin. Heimspiele. 7000 Athleten aus mehr als 170 Ländern werden in der deutschen Hauptstadt erwartet. Sie treten in 24 Sportarten gegeneinander an. „Der Zusammenhalt unter den Sportlern ist sehr besonders“, sagt Christian. Bei den Wettkämpfen gibt es keinen Neid, keine Missgunst. Selbst die Athleten, die verlieren, freuen sich ehrlich und von Herzen mit den Gewinnern.

Der Sport hat Christians Leben verändert. Ihn zu dem Menschen gemacht, der er heute ist. „Endlich können meine Eltern stolz auf mich sein. Ich habe ihnen viel Kummer bereitet“, sagt er. „Ich hätte viel mehr aus mir machen können, hätte ich nicht so einen Blödsinn angestellt.“ Doch viel entscheidender ist, was Christian geschafft hat, sich aufzubauen: In Henstedt-Ulzburg lebt er in einer eigenen Wohnung, hat einen festen Arbeitsplatz, eine nette Freundin. „Ich bin froh, dass ich jetzt bin, wie ich bin“, sagt er. Nämlich ein verdammt netter, offener Kerl, der vor jeder Trainingseinheit eine Viertelstunde zu früh am Tennisplatz steht, weil er es kaum erwarten kann, Sport zu machen.