Als Journalistin noch einmal so richtig durchstarten: Davon träumt die pensionierte Verwaltungsbeamtin Dorothea Holle.
„Pass doch auf, du dämliche Kuh!“
Dorothea Holle wechselte mit ihrem Hollandrad vom Fußweg auf die Straße und übersah den von hinten herannahenden knallroten Wagen. Zum Glück war die Lütjenseer Straße in Großensee leer, und nach Bremsung und einem Schlenker konnte der Fahrer der 63-jährigen Radlerin noch ausweichen. Die beiden großen Fässer auf der Ladefläche wackelten verdächtig, und mit einer eindeutigen Geste verschwanden Fahrer und Wagen mit quietschenden Reifen hinter der nächsten Kurve.
Freie Redakteurin beim Hamburger Abendblatt in Ahrensburg
Dorotheas Knie zitterten noch, und sie hielt kurz an, um zu verschnaufen. Gab es in der Welt nur noch Neid, Missgunst und Anfeindung? Konnte man denn keinen Fehler mehr machen, ohne dabei auf das Schwerste beleidigt oder menschlich verletzt zu werden? Oder war das, was sie gerade fühlte, ein Zeichen für den Beginn des Altersstarrsinns? Wütend schrie Dorothea laut auf und trat hart in die Pedale.
Sie hatte gehofft, nach vorzeitiger Pensionierung als leitende Verwaltungsbeamtin im Bürgerbüro Siek der aufkommenden Langeweile und Einsamkeit durch einen Job als frei arbeitende Redakteurin beim Hamburger Abendblatt zu entgehen. Auch hatte, nach jahrelanger Pflege ihrer Mutter bis zu deren Tod, Dorotheas Lebensmut stark gelitten. Ehrgeizig und voller Hoffnung auf mehr soziale Kontakte schrieb die in Siek Wohnhafte nun für die Stormarner Lokalredaktion in Ahrensburg.
Gerade kam Dorothea schweißgebadet vom „Dörphus Großensee“, wo sie an der Vorstandssitzung des Vereins „Senioren Union Großensee“ teilgenommen hatte. Schon in der kommenden Woche würde man ihren Bericht über die Neuwahlen im Regionalteil veröffentlichen, doch sie spürte, dass ihr der Umgang mit Menschen ihres Alters immer schwerer fiel.
Ihr Nachname brachte ihr früher viel Hänselei ein
Auch heute wieder: Bei ihrer Vorstellung als Vertreterin der Presse durch den Vereinsvorstand brachen die Senioren im Dörphus in anhaltendes Gegröle aus: Frau Holle, haha. Das jüngere Publikum hatte die Märchengestalt der Gebrüder Grimm zum Glück nicht mehr auf dem Schirm. „Warum habe ich mir bloß das Kennzeichen nicht aufgeschrieben?“, fluchte die Pensionärin. „Sicher hätte sich Polizeihauptmeister Schwereloß von der Polizeistation in Großhansdorf sofort darum gekümmert!“
Der gewichtige Polizeibeamte war ihr aus dem Amt Siek bestens bekannt und nicht ganz unsympathisch. Doch der Witwer hatte nie Anstalten gemacht, sie näher kennenlernen zu wollen. So hatte sich bisher keine Beziehung mit dem 59-Jährigen ergeben. Dorothea Holle selbst war nie verheiratet gewesen, obwohl sie gerne den Nachnamen gewechselt hätte, der ihr früher so viel Hänselei eingebracht hatte. Doch leider war ihr „Mr. Right“ nie begegnet.
Neben der Liebe zur Natur waren das Schreiben und das Fahrradfahren die großen Leidenschaften der Alleinstehenden. So oft es nur ging, verband Dorothea Arbeit und Freizeit. Nur wenn Pressetermine in die Dunkelheit gelegt wurden, verzichtete die gebürtige Oldesloerin auf das Hollandrad und stieg in ihren alten VW Bus.
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Nichts geht über ein erfrischendes Bad im Großensee
Mit diesen Gedanken radelte Dorothea an diesem heißen Sommernachmittag durch die Stormarner Schweiz. Spontan beschloss sie, noch baden zu gehen. Der fehlende Badeanzug bereitete ihr keine Probleme. Der Großensee bot Plätze genug, um sich – verschont von fremden Blicken – abzukühlen.
Bei der Lütjenseer Straße überholte sie eine Gruppe Jugendlicher, die – mit Handtüchern und einem Kasten Bier ausgestattet – auch in Richtung des Sees unterwegs war. Sie entschied sich für den ruhigen Bereich „Am Pfefferberg“ und hatte schnell eine geeignete Badestelle ausgemacht.
Trotz des anhaltenden schönen Sommerwetters war der Großensee nie überlaufen, freute sie sich, während sie das Fahrrad ins Gebüsch schob. Sie packte ihre Kleider in den Fahrradkorb und stapfte nackt in den See.
Das Wasser war klar und angenehm, und Dorothea spürte, wie sie entspannte und ihr Körper sie mit einer Welle Glückshormonen belohnte. Sie kühlte sich kurz ab, warf sich dann in das Nass und begann zu kraulen.
Mit dem heutigen Artikel würde sie sicher keinen Blumentopf gewinnen, ging es ihr durch den Kopf. Sie benötigte dringend eine Titelstory oder zumindest etwas, was aus der üblichen Masse herausstach. Auf jeden Fall mehr als ein Bericht über die Vorstandswahlen eines Seniorenvereins.
Was machen die Männer mit den Fässern am Großensee?
Die Zeit verging, und ihr Blick fiel zum Ufer. Sie hatte sich schon weit davon entfernt und entschied zurückzuschwimmen. Aber was war das? Vorne im Gebüsch stand ein Wagen! Knallrot leuchtete er vor dem Grün der Natur. Dorothea wechselte sofort ihren Schwimmstil von Kraul auf Brust. Sie konnte das Fahrzeug nur undeutlich erkennen, denn ihre Brille lag bei der Kleidung. Doch es erinnerte sie an den Wagen, der sie eben fast über den Haufen gefahren hatte. Sie begann, in kurzen Bahnen zu schwimmen, den Blick weiter zum Ufer gerichtet.
Plötzlich sprangen zwei Männer aus der Kabine des Wagens. Sie schleiften – unter großen Mühen – ein riesiges Fass zum See. Ihr Herz stockte. Was ging da vor sich? Kippten die etwas in den Großensee? Dorothea bewegte die Arme langsamer, um weniger Wasser aufzuwirbeln. Niemand durfte sie entdecken! Inzwischen war ihr kalt geworden, und es war an der Zeit, den See zu verlassen. Aber erst mussten die seltsamen Typen verschwunden sein. Schon liefen sie mit dem Fass in Richtung Dickicht.
Keine Minute war verstrichen, da erschienen die Männer mit einem weiteren Fass. Tausende Gedanken schossen Dorothea durch den Kopf, aber nur einer blieb hängen: Hier wurde Müll abgeladen! Sondermüll! Irgendetwas, das schwierig und aufwendig zu entsorgen war und was diese Umweltfrevler gerade im Großensee verklappten. Bingo! Sie konnte sich wie immer voll auf ihren Spürsinn verlassen. Schon der Beinnaheunfall von eben hatte ihr gezeigt, dass der Fahrer nicht ganz koscher war.
Inzwischen hatten die Umweltfrevler auch das zweite Fass entleert. Gerade schienen sie zu prüfen, ob sich das Gift im Wasser aufgelöst hatte. Jetzt unterhielten sie sich. Endlich stiegen sie in den Wagen, um schon wenige Augenblicke später aus ihrem Gesichtsfeld verschwunden zu sein.
Dorothea spekulierte panisch: Ob der See die Wasserversorgung des Stormarner Landkreises sicherte? Während sie zügig zurückschwamm, brachen vor ihrem geistigen Auge Menschen mit Vergiftungserscheinungen zusammen. Sie musste dringend die Polizei verständigen, bevor so ein grauenvolles Szenario wahr würde!
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„Zwei Männer haben Fässer voller Gift in den See gekippt“
Dorothea hatte inzwischen den Großensee an anderer Stelle verlassen. Vorsichtig bahnte sie sich den Weg zurück durch das Uferdickicht. Hin und wieder vernahm sie Geräusche, doch zum Glück tauchte niemand auf. Endlich war das Fahrrad in Sichtweite. Die Verbrecher hatten es wohl nicht entdeckt. Gott sei Dank, vielleicht hätte sie das – als Zeugin der Tat – nicht überlebt! Dorothea wollte sich so etwas erst gar nicht vorstellen.
An der Stelle beim Uferbereich, wo eben noch der Wagen stand, fand sie Spuren. Das Wasser des Großensees schien auf den ersten Blick sauber zu sein. Trotzdem sollte sie unbedingt eine Wasserprobe entnehmen und den Verantwortlichen übergeben. Aber ihr fehlte ein Behältnis. Die Jugendlichen von vorhin fielen ihr ein, und sie horchte in die Stille. Doch die Gruppe musste weit entfernt von ihr einen Badeplatz gefunden zu haben.
Dorothea griff nach ihrem Handy und rief in der Polizeistation Großhansdorf an. Das schien ihr der beste Weg zu sein, die Aufklärung in Gang zu bringen und Schlimmeres zu verhindern.
„Polizeihauptmeister Schwereloß.“
„Hallo, hier spricht Dorothea Holle!“
Sekundenlanges Schweigen.
Dorothea rollte mit den Augen. „Amt Siek! Frau Holle! Die leitende Verwaltungsbeamtin! Na, dämmert es, Siegfried?“
Endlich schien bei Schwereloß der Groschen gefallen zu sein.
„Aber natürlich ... waren wir nicht sogar beim DU?“, antwortete er sichtlich irritiert.
„Ja, ja, tatsächlich! Ich brauche dringend deine Hilfe ... befinde mich am Großensee ... war schwimmen ... dann tauchte ein Fahrzeug auf!“ Die 63-Jährige spürte, wie die Worte nur so aus ihr herausschossen und musste sich zwingen, langsamer zu sprechen.
„Dort – am – Großensee – zwei Männer – haben – Fässer – voller – Gift – in – den – See – gekippt!“
Ihre eigenen Worte machten ihr die Tragweite der Tat erst im Nachhinein deutlich, und große Angst überfiel sie.
Der Polizeibeamte hatte wohl ihre Anspannung bemerkt und seine Stimme wurde sanfter: „Um Gottes willen, Dorothea, nun mal langsam! Gift im Großensee? Mensch, das klingt nach einer riesigen Sauerei, also einer Umweltkatastrophe! Eigentlich bin ich der falsche Ansprechpartner. Da muss die Umweltbehörde und sicher ein Dekona... ein Dekontaminationstrupp her. Schweres Wort! Aber ich kümmere mich. Nenn mir bitte deinen genauen Standort und rühr dich bloß nicht von der Stelle!“
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Das könnte der Artikel ihres Lebens werden
Dorothea hatte die letzte Stunde in einem Rettungswagen verbracht. Der besaß die gleiche Farbe wie das Fahrzeug der Täter, und sie musste Schwereloß und zahlreiche, düster blickende Männer von ihrem Erlebnis in Kenntnis setzen. Man hatte ihre Eindrücke sofort ernst genommen und versprochen, alle erforderlichen Maßnahmen einzuleiten.
Später hatte Schwereloß fürsorglich seinen Arm um die vor Kälte Zitternde gelegt und sie vorsichtshalber zum Rettungswagen gebracht. Sie fühlte sich ausgesprochen wohl neben ihm, diese Nähe erfüllte sie mit Wärme und Geborgenheit. War diese Seite des Beamten reine Professionalität – oder empfand Schwereloß tatsächlich Zuneigung zu ihr? Schnell unterdrückte sie weitere Gedanken über eine gemeinsame Zukunft mit dem Polizisten.
Inzwischen folgte Dorothea – in eine Decke gewickelt – dem Treiben draußen aus den offenen Türen des Kastenwagens. Ein Großaufgebot von Feuerwehr und Technischem Hilfswerk war bemüht, die von ihr aufgedeckten Auswirkungen der Umweltkatastrophe abzumildern.
Gerade verließen Taucher in orangefarbenen Neoprenanzügen das Gewässer; sie trugen Sauerstoffflaschen und Helme, die denen von Astronauten glichen. Am Uferrand füllten gesichtslose Personen in weißen Schutzanzügen unzählige Wasserproben in kleine Glasfläschchen. Dorothea war sich absolut sicher, die Giftpanscher würden mit ihrer Aktion nicht durchkommen, und innerlich war sie schon dabei, den Artikel ihres Lebens zu formulieren.
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Trinkwasserversorgung ist nicht gefährdet
Plötzlich vernahm Dorothea Stimmen. Sie hielt den Atem an. Es klang nach einer Pressekonferenz.
„Meine Damen und Herren, hier ein kurzes Statement: Wir können von Glück reden, dass das Trinkwasser der umliegenden Gemeinden nicht aus dem Großensee gespeist wird. Das war aber – nur für Sie zur Info – bis 1988 der Fall. Trotzdem habe ich den Fachdienst 43 angewiesen, präventiv zum Schutz der Bevölkerung erst einmal die komplette Wasserversorgung bis Ahrensburg, Rahlstedt und im Süden bis Reinbek abzuschalten. Sobald genaue Messungen über Natrium, Nitrat, Blei und den aktuellen pH-Wert vorliegen, werde ich ihnen Weiteres berichten. Auch über die Art des eingeleiteten Gifts werden sie umgehend informiert!“
Plötzlich wichen Dorotheas Angst und Panik purer Fassungslosigkeit. Großer Gott, wenn irgendjemand vor ihr darüber berichtete! Sie erkannte, wie ihre Hoffnung auf einen Leitartikel verpuffte. Niedergeschlagen und wie versteinert hockte sie auf der Liege. Sie fühlte sich plötzlich alt und kraftlos.
Im selben Moment trat ein Feuerwehrmann zum Sanitätswagen und bat um eine Kopfschmerztablette. Der Sanitäter zog eine Packung heraus, drückte das Medikament aus dem Blister und hielt es ihm hin.
„Wasser?“, fragte der Sanitäter. Der Mann konnte sich trotz der Beschwerden ein Grinsen nicht verkneifen. „Na, als wenn wir von der Feuerwehr kein Wasser hätten!“
„Gut, aber wenn es schlimmer wird, müssen Sie sich untersuchen lassen!“
Am Ende kommt es immer anders, als man denkt
Der Sanitäter deutete mit einer Kopfbewegung in Richtung See. „Nein, Nein! Ich glaube, ich bin einfach nur überarbeitet!“, erklärte er den beiden Zuhörern. „Wissen Sie, ich besitze hier im Ort eine kleine Bäckerei“, fuhr er fort. „Ab zwei Uhr in der Früh habe ich Brot und Brötchen gebacken. Später noch Kuchen und gerade, als ich mich hinlegen wollte, kam Sven vom Fischereiverein Großensee vorbei. Ich hatte doch tatsächlich unseren wichtigen Termin vergessen. Dann die Sirene ...!“
„Welchen wichtigen Termin?“, unterbrach ihn die neugierig gewordene Dorothea Holle.
„Ach, wie es der Zufall will, haben Sven und ich vor knapp zwei Stunden hier in der Nähe zwei Fässer mit Jungfischen – Barsche und Brassen – im See ausgesetzt. Wenn das mit der Umweltkatastrophe keine Fake News sind, war die ganze Arbeit wohl umsonst!“
„Waren ... also sind Sie ... mit einem ... Geländewagen dorthin ... gefahren?“, stammelte Dorothea.
Der Feuerwehrmann hatte inzwischen die Tablette zusammen mit einem Schluck aus seiner Mineralwasserflasche hinuntergespült und blickte müde zur Fragenden. „Nein, kein Geländewagen. Sven ist Gärtner und besitzt doch diesen roten Pick-up, den mit der Ladefläche!“
Fassungslos starrte Frau Holle den Mann an. Ihre Knie gaben nach, und sie bat den Allmächtigen inständig, im Boden versinken zu dürfen.
Sie stotterte: „Oh, die ... die .... armen Fische!“