Der Frühling ist da, die Sonne lässt sich blicken – und schon bald dürfen manche Gastronomen wieder öffnen. Also alles halb so wild?

Am letzten Sonnabend, Norderstedter Stadtpark. Blanker Himmel mit Sonne, sogar der Wind hielt die Klappe, und wer die Jacke öffnete oder auszog und lässig über die Schulter baumeln ließ, wurde für diese Verwegenheit nicht mit Gefrierbrand bestraft, sondern von Frühlingsgefühlen überwältigt. Auf den Spazierwegen lustwandelte das Volk, auf dem Stadtparksee rotierten virtuose Wasserski-Akrobaten. Die Kioske boten Currywurst und Eiskrem feil, serviert mit gechillten Weisen aus wattstarken Außenlautsprechern. Und, hach, es gab sogar geöffnete öffentliche Toiletten. Das Leben kann schön sein.

Am Montag öffneten dann sogar Gastronomen in Schleswig-Holstein ihre Außenbereiche. Also, nicht in Norderstedt. Das zählt ja zum Kreis Segeberg und der durfte da, inzidenzbedingt, nicht mitmachen. Ich hätte an die Küste fahren können. Aber ehrlich, nach diesem Sonnabend im Norderstedter Stadtpark war ich für einen Café Latte in Timmendorf oder so noch nicht bereit. Nach einem langen Winter in weitgehender Einsiedelei verkrafte ich menschliche Rudelbildung nur in wohldosierten Maßen. Sogar heute noch bin ich damit beschäftigt, die ungewohnten Eindrücke vom Stadtpark-Spaziergang unter annähernden Normalbedingungen zu verarbeiten. Das ist erstaunlich.

Noch vor gut einem Jahr wäre so ein dödeliger Spaziergang doch höchstens der Auftakt für ein stinknormales Wochenende gewesen: danach mit Freunden treffen, gemeinsam Essen gehen, dann ins Konzert, Kino, Theater, hinterher ein Absacker in der Bar, ab nach Hause. Und am Sonntag noch mal das Ganze. Würde ich solch ein Wochenende jetzt sofort erleben, müsste ich mich anschließend wahrscheinlich in Therapie begeben. Aber bitte keine Gruppentherapie, sonst dreh‘ ich durch.

Wir sehnen uns ja alle so sehr nach Freiheit. Andauernd fällt der Satz: „Ich will mein altes Leben wiederhaben!“. Wenn’s mal so weit sein sollte, werden vermutlich viele von uns feststellen, dass unser „altes Leben“ auch ganz schön anstrengend war. Wenn ich bedenke, wie intensiv mich besagter Spaziergang beeindruckt hat, mag ich mir kaum vorstellen, was in meinem Gehirn nebst angeschlossenen Sinnesorganen abginge, wäre die Welt von einem Tag auf den anderen plötzlich coronafrei. Sich dann sofort ins pralle Leben zu stürzen, wäre ziemlich sicher ähnlich ungesund, wie untrainiert, übergewichtig und ohne Aufwärmprogramm beim Hanse-Marathon zu starten.

Ob wir wirklich nahtlos da weitermachen, wo uns die Pandemie aus der Kurve geworfen hat? Ich bin sehr gespannt darauf, ob wir irgendwann nach Corona beim Blick in den persönlichen Rückspiegel feststellen, dass wir uns nachhaltig verändert haben. Ob wir einstige Selbstverständlichkeiten nicht mehr für selbstverständlich halten. Ob wir in Sachen Karriere, Konsum & Lebenswandel nicht mehr permanent auf dem Gaspedal stehen. Ob Freundschaften und Familie ihren Stellenwert auf der persönlichen Richterskala verändern. Und ob wir uns öfter Denkpausen einräumen. Bei einem Stadtparkspaziergang, zum Beispiel.