Norderstedt. 50 neue Freiwillige haben sich gemeldet – ausgelöst vom Ukraine-Krieg. Die meisten Bedürftigen in Norderstedt kommen derzeit aber aus Afghanistan
Dreimal hintereinander hält Maike Thomsen vom Norderstedter Willkommen-Team am Mittwoch den gleichen Vortrag. Seitdem der Krieg in der Ukraine ausgebrochen ist, melden sich viele Menschen, die sich engagieren und Geflüchteten helfen möchten. Drei Stunden lang hat Thomsen deswegen den Sitzungssaal 2 im Rathaus gebucht. Je eine Stunde informiert sie über die Flüchtlingssituation in der Stadt und welche Art von Hilfe benötigt wird. Zum Beispiel Menschen, die Neuankömmlinge begrüßen und sie zu Ärzten und Behörden begleiten. Übersetzer. Lehrkräfte. Am Ende des Vortrags teilt Ilka Bandelow, Vorsitzende des Willkommen-Teams, Anmeldeformulare für eine kostenfreie Mitgliedschaft aus. 50 neue Helferinnen und Helfer sind bereits in den gemeinnützigen Verein eingetreten.
Freundschaften mit Geflüchteten entstehen
„Es ist unglaublich, wie oft das Telefon in den letzten Wochen geklingelt hat“, berichtet Ilka Bandelow. „Die Menschen machen den Fernseher an und sind sehr betroffen, was in der Ukraine passiert.“ So ging es auch Katrin W. aus Norderstedt. „Das sind Menschen wie du und ich, die aus ihrem Leben gerissen werden. Es gibt eine Not und da muss geholfen werden“, sagt die 64-Jährige, die eine der Infoveranstaltungen mit ihrem Mann Stefan besucht hat. „Ich kümmere mich schon um eine Familie aus Butscha“, erzählt Birgit Czischke. Die 65-Jährige hat eine hilfsbedürftige Ukrainerin mit ihrem Sohn an einer Bushaltestelle angesprochen. „Seitdem treffen wir uns zweimal die Woche.“ Czischke sucht den Kontakt zum Willkommen-Team, um Zugang zu einer offiziellen Stelle zu bekommen und noch leichter an Informationen zu gelangen.
Die Hilfsbereitschaft sollte aber kein Ablaufdatum haben. Das macht Ilka Bandelow klar: „Das ist keine Sache von drei bis vier Wochen. Unsere Hilfe ist längerfristig angelegt.“ Die 62-Jährige pflegt einen engen Kontakt zu einigen Flüchtlingen. Sie hat Freundschaften geschlossen, war schon auf einer Hochzeit eingeladen. Von einer Familie erzählt sie, als wäre es ihre eigene. Vor Kurzem hat die Frau ein Kind bekommen. „Es fühlt sich an, als wäre ich gerade Oma geworden.“
Das Willkommen-Team begrüßt die Menschen, die ihr Heimatland verlassen und in Norderstedt ankommen. Die ehrenamtlichen Helfer überreichen ihnen bei der Ankunft einen Beutel mit der nötigen Erstausstattung – darin befinden sich unter anderem Töpfe, Handtücher, Seife, Besteck, Gläser und Klopapier. Wegen des grausamen Krieges des russischen Präsidenten richtet sich die mediale Aufmerksamkeit vor allem auf die Geflüchteten aus der Ukraine. Doch nicht nur sie suchen in Norderstedt ein sicheres Dach über dem Kopf. Derzeit kommen mehr Menschen aus Afghanistan an als Ukrainer, wie Maike Thomsen in ihrem Vortrag berichtet.
Sind Hilfesuchende mit dunkler Hautfarbe Flüchtlinge zweiter Klasse?
„Für uns sind alle Flüchtlinge gleich. Es sind Menschen. Sie haben ein Schicksal und einen Grund, hierherzukommen“, sagt Ilka Bandelow. Ukrainische Geflüchtete werden mit kostenlosen SIM-Karten und HVV-Tickets ausgestattet – Hilfesuchende aus anderen Ländern nicht. Immer wieder ist die Rede von „Flüchtlingen zweiter Klasse“. „Natürlich bekommen sie das mit. Das kreiden sie aber nicht den Ukrainern an. Die deutsche Gesellschaft hat ein Unterscheidungsproblem“, meint Bandelow.
Geflüchtete mit dunkler Hautfarbe wären schon häufig rassistisch angefeindet worden. Ukrainer unterschieden sich optisch nicht so sehr von den Deutschen und hätten deshalb weniger Probleme. „Ich finde es traurig und bitter“, sagt die Vorsitzende des Willkommen-Teams.
Ihr ist es wichtig, im Gespräch mit dem Abendblatt von einer ganz bestimmten Geschichte zu erzählen. Neulich hat sie ein Radiointerview gegeben, da wurde ausgerechnet diese Stelle herausgeschnitten. Ilka Bandelow spricht gerne über die schönen Erfahrungen, die sie durch die Flüchtlingsarbeit sammelt. „Davon gibt es so viele.“
Zum Beispiel diese: In einer Notunterkunft, in der überwiegend Afghanen, Syrer und Armenier wohnen, haben die Bewohnerinnen und Bewohner erfahren, dass in Norderstedt dringend Platz für ukrainische Flüchtlinge gesucht wird. „Die Familien sind zusammengerückt, sodass 30 Ukrainer aufgenommen werden konnten.“ Anschließend haben sie für die Neuankömmlinge gekocht. „Sie können nachempfinden, wie es sich anfühlt, seine Heimat zu verlieren. Sie haben auch Krieg und Bomben erlebt.“
Willkommen-Team bestand 2015/16 aus 350 Mitgliedern
Ilka Bandelow hat die Hilfsbereitschaft in Norderstedt während der Flüchtlingskrise 2015 genauso groß erlebt wie jetzt. „Damals wurde nur nicht so viel privater Wohnraum zur Verfügung gestellt. Das lag vermutlich daran, dass überwiegend junge Männer hierherkamen.
Nun sind es Frauen und Kinder, die man nicht in der Kälte stehen lassen möchte.“ Zur Hochphase 2015/2016 bestand das Willkommen-Team aus 350 Mitgliedern. Zwischenzeitlich ist es auf 120 – auch wegen der Corona-Pandemie – geschrumpft. Nun sind es wieder rund 170 ehrenamtliche Mitglieder. Ilka Bandelow setzt sich seit 2015 mit Leib und Seele für die Flüchtlingshilfe ein. Auch ihr haben die furchtbaren Bilder im Fernsehen den Anstoß gegeben. Seit 2017 ist sie Vorsitzende. „Für mich ist die Arbeit der letzten sieben Jahre eine Erfolgsgeschichte.“
Zu sehen, wie engagiert die Menschen auch in dieser Krise wieder sind, lässt Ilka Bandelow positiv in die Zukunft blicken. Mit einem verschmitzten Grinsen, aber genauso herzlich sagt sie: „Die Ereignisse der letzten Wochen haben mir Hoffnung gegeben, dass es um unsere Gesellschaft doch nicht so schlecht steht wie befürchtet.“
Wer das Willkommen-Team
unterstützen möchte, kann sich unter buero@willkommen-team.org melden.Gesucht werden Menschen, die Neuankömmlinge begrüßen, mit ihnen zu Ärzten und Behörden gehen oder Lust haben, Willkommens-Beutel zu packen.Gebraucht werden außerdem Übersetzer,Lehrkräfte für „Erstes Deutsch“ und Helferinnen und Helfer für die Fahrradwerkstatt. Auch eigene Projektideen können vorgeschlagen werden.