Installation soll Menschen in einer Dementen-Wohngemeinschaft in Henstedt-Ulzburg helfen, ihre Erinnerungen freizulegen.

Henstedt-Ulzburg Mitten im Garten der Demenz-WG an der Kreuzkirche in Henstedt-Ulzburg befindet sich seit einigen Tagen eine Bushaltestelle. Am Holzmast hängt ein Fahrplan der Linie 293 – dieser zeigt die Abfahrtszeiten von Montag bis Sonntag von der Station Wilstedter Straße. Bei einem Spaziergang durch die Grünanlage entdeckt eine Bewohnerin das Haltestellenschild – sie erkennt es an dem typischen, grün und gelb umrandeten „H“. Gemeinsam mit Jacqueline Hille, die das Team der betreuten Wohngemeinschaft der Diakonie Altholstein leitet, setzt sie sich auf eine Bank – und wartet auf den Bus. Doch dieser wird niemals kommen.

„Demente Menschen haben eine starke Weglauftendenz“

Die Bushaltestelle ist eine Attrappe – die echte Station der Linie 293 befindet sich an der Hauptstraße, wenige Gehminuten von der Einrichtung entfernt. Seit zwei Jahren gibt es die WG an der Kreuzkirche. Zwölf Menschen mit Demenz im Alter von 61 bis 91 Jahren leben hier – jeder in einem eigenen Zimmer mit Bad. Gekocht wird in der Gemeinschaftsküche. „Demente Menschen haben eine starke Weglauftendenz“, sagt Jacqueline Hille.

Gerade neue Mieter hätten den Drang, sich fortzubewegen. Von der Scheinbushaltestelle erhofft sich Hille, dass die Bewohner seltener davonlaufen. Sie sollen an ihr früheres Leben erinnert werden. Denn viele haben eine Verbindung zu dem öffentlichen Verkehrsmittel. „Als sie jünger waren, sind einige mit dem Bus zur Arbeit gefahren. Diese Information können Menschen mit kognitiven Einschränkungen oft noch über ihr Langzeitgedächtnis abrufen“, sagt Hille.

Sollten die demenzkranken Bewohnerinnen und Bewohner zu lange auf den Bus warten, werden sie von Betreuern abgeholt und hereingebeten. Ihnen wird dann in Ruhe erklärt, dass der Bus heute wohl nicht kommen wird.

Verkehrsbetriebe Hamburg-Holstein vermittelte die Haltestelle

Die Idee, eine Haltestelle im Garten zu errichten, hatte Petra Henry-Könnemann. Die Betreuungskraft hat die WG-Bewohner häufig auf einer Bank im Eingangsbereich sitzen sehen. „Immer wenn ich gefragt habe, warum sie denn da sitzen, sagten sie mir, dass sie auf den Bus warten“, erzählt Henry-Könnemann. Also fragte sie bei den Verkehrsbetrieben Hamburg-Holstein (VHH) an, ob diese eine alte Bushaltestelle übrig hätten – und bekam positive Rückmeldung.

„Wir waren sofort begeistert“, sagt Susanne Rieschick-Dziabas, Marketingleiterin der VHH. „Demenz ist ein Thema, das uns alle angeht. Die Krankheit kann jeden treffen. Wir freuen uns, wenn wir mit so einfachen Mitteln dazu beitragen können, dass es Betroffenen, zumindest für einen Moment, besser geht.“

Polizei musste entlaufene Senioren zurückbringen

An der Eingangstür der diakonischen Wohngemeinschaft befindet sich eine Klingel. Auf diese Weise bemerken die Betreuer, wenn ein WG-Bewohner das Gebäude verlässt. In solchen Momenten können sie zwar auf den dementen Menschen einreden, ihn versuchen, mit guten Worten von seinem Ausflug abzuhalten. Festhalten dürfen sie ihn aber nicht. „Wir sind keine geschlossene Einrichtung. Die Menschen dürfen das Haus verlassen“, erklärt Jacqueline Hille. Natürlich würde man die Bewohner auch draußen begleiten. Aber zweimal sei es schon passiert, dass die Polizei entlaufene Senioren zurückbringen musste.

Damit die Bewohner der Demenz-WG gar nicht erst auf die Idee kommen, die Flucht zu ergreifen, werden sie so gut wie möglich abgelenkt. Neben der echt-unechten Bushaltestelle soll auch ein Briefkasten, der ebenfalls im Garten steht, die Menschen beschäftigen. In den ausrangierten gelben Kasten können sie Briefe und Karten an ihre Angehörigen einwerfen. Beim Schreiben helfen ihnen die Betreuer. Auf dem Kasten stehen sogar Leerungszeiten – Montag bis Freitag 18 Uhr, sonnabends 12 und 18 Uhr. Zwar kommt kein Postbote vorbei und leert den Briefkasten. Aber das Team der Diakonie Altholstein will sie zur echten Post bringen und verschicken.

Denkbar sind auch eine Ampel und ein Zebrastreifen

„Normalerweise stellen wir auf privatem Grund keine Briefkästen auf“, sagt Gerrit Karp, der als Betriebsleiter für die Brief- und Paketzustellung Pinneberg für die Deutsche Post tätig ist. Aber in diesem besonderen Fall hätte man eine Ausnahme gemacht. „Wenn wir hier durch das Aufstellen eines Postbriefkastens dazu beitragen können, dass die Bewohnerinnen und Bewohner gewohnte Alltagssituationen wie Einwerfen von Briefen erleben können, tun wir dies sehr gerne“, sagt Karp. Ihm ist deutschlandweit kein Briefkasten bekannt, der als Attrappe für demenzkranke Menschen genutzt wird. „Ich glaube, das ist einmalig.“

Auch diese Idee stammt von Petra Henry-Könnemann. „Ich habe noch einige weitere Vorschläge“, betont sie. Als nächstes würde sie gern eine alte Verkehrsampel auf dem Gelände installieren und dazu einen Zebrastreifen. „Auch ein Schaufenster würde ich toll finden“, sagt die Betreuerin. Darin möchte sie Kleidung ausstellen. Oder alte Poster von Musikbands, die die Bewohner von früher kennen. Wie etwa Roy Black.

Benjamin Seidel, Geschäftsbereichsleiter Senioren und Pflege bei der Diakonie Altholstein, ist sehr zufrieden mit der Entwicklung der Demenz-WG – neben der Gemeinschaft in Henstedt-Ulzburg gibt es noch zwei weitere. „Der Lebensraum wächst und gedeiht. Das ist sehr schön zu erleben“, sagt Seidel.