Norderstedt. Bernd Philipsen und Fred Zimmak legen mit „Wir sollten leben“ ein neues Sachbuch über die Rettung von Juden vor.
Ende April 1945. Deutschland steht kurz vor der Befreiung. Erbarmungslos treibt die SS 800 Menschen, meist Juden, aus Hamburgs KZs Neuengamme und Fuhlsbüttel über schleswig-holsteinische Landschaften ins „Erziehungslager Nordmark“ in Kiel-Hassee. Wer nicht mehr laufen kann, wird erschossen. Doch einem schwedischen Grafen und dem ehemaligen Hamburger Norbert Masur gelingt es, mit einer geheimen Mission 153 Jüdinnen und Juden zu retten.
Über diese Rettung berichten Bernd Philipsen und Fred Zimmak in ihrem Buch „Wir sollten leben – Am 1. Mai 1945 von Kiel mit Weißen Bussen nach Schweden in die Freiheit“, erschienen im Novalis-Verlag. Schon Dietlind Kautzky und Thomas Käpernik von der KZ Gedenkstätte Kaltenkirchen-Springhirsch hatten über den Todesmarsch in ihrem Buch „Mein Schicksal ist nur eins von Abertausenden“ berichtet. Einige Kinder und Enkel der Holocaust-Überlebenden sind den Weg ihrer Eltern und Großeltern am 15. April 2015, auf den Tag genau 70 Jahre später auf dem „Marsch der Lebenden“ noch einmal gegangen, darunter Ruthy Sherman aus Kfar Saba in Israel, Tochter von Hilde Scherman, geborene Zander.
Hilde Sherman überlebte den Todesmarsch vom KZ Fuhlsbüttel über den Ochsenzoll an der Grenze von Hamburg und Schleswig-Holstein entlang der Ulzburger Straße durch die Dörfer Garstedt, Harksheide und Friedrichsgabe, über Ulzburg nach Kaltenkirchen bis Kiel-Hassee. Ein Martyrium. „Das Gefühl, jetzt dieselbe Strecke zu gehen wie damals meine Mutter in all ihrer Qual, ist unglaublich, es ist ein tief berührendes Gefühl, ich bin erschüttert“, sagte Ruthy Sherman im April 2015. Als ihre Mutter am 1. Mai 1945 in die Thermoswagen einsteigen sollte, dachte sie, es seien Todesbusse, die Nazis würden sie in den Bussen vergasen, so, wie sie schon Juden im KZ Riga ermordet hatten. Doch als einige Dänen mit einstiegen, legte sich die Panik. Ohnehin war Hilde Zander vom Todesmarsch viel zu erschöpft, als dass sie noch Widerstand leisten konnte: Bruch der Wirbelsäule durch den Schlag eines SS-Mannes auf ihren Rücken, Typhus, Ruhr, Nierenbecken-Entzündung, Gelbsucht. Ihr fehlten zeitlebens acht Tage in ihrer Erinnerung, vom 1. Mai, als sie in den Weißen Bus stieg, bis zum 9. Mai in einem Krankenhaus in Malmö. Doch was sie erinnerte, schrieb Hilde Zander in ihrem Buch „Zwischen Tag und Dunkel, Mädchenjahre im Ghetto“ (1984, Ullstein-Verlag) auf, aus dem auch die Autoren Bernd Philipsen und Fred Zimmak in „Wir sollten leben“ zitieren.
Norbert Masurs Familie stammt aus Friedrichstadt
153 jüdische KZ-Häftlinge befreiten die Schweden, allen voran Graf Folke Bernadotte vom schwedischen Roten Kreuz mit Hilfe von Norbert Masur vom World Jewish Congress aus Stockholm, aus dem KZ-ähnlichen Lager Kiel-Hassee. Norbert Masurs Familie stammt aus dem schleswig-holsteinischen Friedrichstadt, er wuchs in Hamburg auf. Mit Graf Bernadotte hatte Masur NS-Reichsinnenminister Heinrich Himmler die Freilassung der KZ-Häftlinge abgerungen. Auch das beschreiben Zimmak und Philipsen in ihrem Buch sachlich, aber eindrücklich. Die KZ-Häftlinge fuhren mit den Weißen Bussen über Flensburg nach Pattburg in Dänemark, mit der Bahn nach Kopenhagen und weiter mit der Fähre ins schwedische Malmö – in die Freiheit.
Schweden stellte Busse, Lkw und Autos zur Verfügung
Insgesamt retteten Masur und Graf Bernadotte 7700 Jüdinnen und Juden nach Schweden, wie Zimmak und Philipsen schreiben. Auch der schwedische Diplomat Raoul Wallenberg nutzte die Weißen Busse für seine Rettungsaktion von immerhin 15.000 Juden aus Ungarn, denen er schwedische Pässe verschaffte. Die Weißen Busse fuhren ab 12. März 1945 nicht nur Richtung Dänemark, sondern auch quer durch Schleswig-Holstein nach Hamburg, ins KZ Neuengamme und weitere KZs, um die Gefangenen zu retten. Schweden stellte dafür 36 Busse, 19 Lkw und sieben Autos zur Verfügung, die weiß angestrichen wurden, das Zeichen des Roten Kreuzes und die schwedische Flagge trugen.
In ihrem Buch legen die Autoren diese Rettungsaktionen mit vielen Dokumenten und Zeitzeugen-Berichten wie dem Hilde Shermans dar. Sie spüren durch Interviews mit den Kindern und Enkeln der Schoa-Überlebenden deren Schicksale vor und ihrem Leben nach der Schoa nach. „Also sollte ich leben“, schrieb Johanna Rosenthal aus Potsdam im schwedischen Flüchtlingsheim Holsbybrunn, und in dem Satz schwingt zugleich die Trauer über den Tod von Freunden und Familie mit. Ihr Satz gab dem Buch auch den Titel.
Unter den Geretteten befand sich auch Fred Zimmaks Vater Leonhard Zimmak, dessen Bericht „Dass ich noch normal bin, ist wirklich ein Wunder“ ebenfalls, geschrieben von Michael French, im Buch steht. Andere Zeitzeugenberichte sind mit „Der Tod war kein Unbekannter mehr“ von Hermann und Flora Voosen betitelt. Die Entstehung der Weißen Busse, das Leben Norbert Masurs, die Initiative Raoul Wallenbergs und Graf Bernadottes sind ebenso Thema wie „Gemeinsamer Neuanfang 1947 in Deutschland“ von Wilhelmine Cohen und Benno Süßkind oder eine Trauung von zwei Paaren in der Stockholmer Synagoge.
Bernd Philipsen und Fred Zimmak „Wir sollten leben – Am 1. Mai 1945 von Kiel mit Weißen Bussen nach Schweden in die Freiheit“, Novalis-Verlag, 282 Seiten mit vielen Fotografien und Faksimiles von Dokumenten, für 19,80 Euro im Buchhandel.