Henstedt-Ulzburg. Im Oktober 2020 waren in Henstedt-Ulzburg Antifa-Aktivisten mit einem Auto angefahren worden. Noch wurden nicht alle Zeugen vernommen.
„Kein Unfall!“ steht in diesen Tagen auf einem Plakat am Gebäude der Roten Flora im Hamburger Schanzenviertel. Gemeint ist ein Vorfall vom 17. Oktober 2020, der nicht nur für die antifaschistische Szene im Norden, sondern allgemein für die Menschen in Henstedt-Ulzburg ein einschneidendes Erlebnis ist. Nach einer von Protesten begleiteten Veranstaltung mit dem AfD-Vorsitzenden Jörg Meuthen im Bürgerhaus war ein damals 18-Jähriger mit einem VW-Pick-up an der Beckersbergstraße in eine Gruppe von Antifa-Aktivisten gefahren, hatte diese zum Teil schwer verletzt. Heute, fast vier Monate später, kommt die Aufarbeitung des Geschehens nur langsam voran. Das kritisiert Alexander Hoffmann, Rechtsanwalt aus Kiel, der einen der Geschädigten, einen jungen Mann, vertritt.
„Wenn man es als eine gefährliche Körperverletzung sieht, ist es ein angemessenes Tempo. Wenn man versucht, es als ein versuchtes Tötungsdelikt zu sehen, ist es unangemessen. Wenn die Staatsanwaltschaft mir vernünftig darlegt, dass es nicht um ein versuchtes Tötungsdelikt geht, kann ich mich damit auseinandersetzen“, sagt er.
Hoffmann ist spezialisiert darauf, Betroffenen von rechtsextremen beziehungsweise rassistischen Übergriffen zu helfen. Bei dem Prozess um den Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke ist der Nebenkläger Ahmed I. sein Mandant. In dieser Woche legte Hoffmann Revision ein gegen die Entscheidung, den verurteilten Lübcke-Mörder Stephan Ernst vom Verwurf des versuchten Mordes 2016 an I., einem irakischen Flüchtling, freizusprechen.
Betroffene sagen, dass der Fall heruntergespielt wird
Auch im NSU-Prozess und im Verfahren gegen den rechtsextremen Attentäter von Halle hat er Nebenkläger vertreten. Aus seiner Sicht wird der Henstedt-Ulzburger Fall heruntergespielt. „Angeblich hätte der Fahrer gesagt, er habe die Betroffenen nur erschrecken wollen. Dagegen sprechen Fotos, die mein Mandant gemacht hat.“ Wie schwer die Verletzungen waren, sei nicht entscheidend. „Es kommt bei einem versuchten Tötungsdelikt darauf an, ob der Täter zu einer Handlung angesetzt und den Tod in Kauf genommen hat.“
Das Fahrzeug soll, führt Hoffmann aus, so gesteuert worden sein, dass es offenbar mehrfach bewusst in die Richtung der Antifa-Gruppe gelenkt wurde. „Und einer der Begleiter des Fahrers hat direkt danach mit meinem Mandanten gesprochen.“ Was genau gesagt wurde, hält der Rechtsanwalt vorerst unter Verschluss. „Mein Mandant hat eine umfassende Aussage gemacht, andere Leute ebenfalls.“ Er habe darum kämpfen müssen, den Namen des Fahrers zu erhalten,
„für Versicherungs- und zivilrechtliche Fragen“.
Der mutmaßliche Täter, der aus der Nähe von Bad Bramstedt stammt, war mit mehreren anderen Männern in Henstedt-Ulzburg. Sie werden eindeutig der rechten Szene zugeordnet, verteilten Aufkleber des völkisch-nationalistischen Netzwerkes „Ein Prozent“, das vom Verfassungsschutz beobachtet wird. Auch für eine Nähe zur rechtsextremen Identitären Bewegung gibt es Hinweise. Nicht vollends geklärt sind die persönlichen Beziehungen zur AfD.
Der Fahrer musste zwar seinen Führerschein abgeben, war aber nach seiner Vernehmung wieder auf freiem Fuß. Alexander Hoffmann hinterfragt, warum damals keine Untersuchungshaft angeordnet wurde. Er vermutet: Wäre das Opfer ein Polizeibeamter gewesen, oder wäre jemand aus der antifaschistischen Szene in eine AfD-Gruppe gefahren, wäre eine U-Haft eher erwogen worden.
Staatsanwaltschaft spricht von unübersichtlichem Geschehen
Für eine Einordnung als politische Tat mit rechtsextremistischem Motiv wäre es aus Sicht von Hoffmann wichtig gewesen, die Social-Media-Aktivitäten des Täters zu untersuchen. Ob dessen Handy und Computer sichergestellt wurden, um dort eventuelle Bezüge zum 17. Oktober zu finden, weiß er nicht. Er fordert nun von der Kieler Staatsanwaltschaft eine Beschleunigung des Verfahrens. „Ich befürchte, dass uns das wegläuft“, eine Anklage wegen versuchten Totschlags oder Mordes wäre dann nicht mehr möglich. Er habe für eine Akteneinsicht eine Frist von drei Wochen gesetzt, droht ansonsten mit einer Dienstaufsichtsbeschwerde.
Oberstaatsanwalt Henning Hadeler antwortet auf Abendblatt-Nachfrage: „Es geht darum, ein möglichst objektives Bild herauszufiltern. Es ist ein unübersichtliches Geschehen, es waren extrem viele Personen vor Ort. Das dauert seine Zeit. Es geht Gründlichkeit vor Schnelligkeit.“ Es seien noch nicht alle Zeugen vernommen worden, das begründet er auch mit der Corona-Situation. Er geht davon aus, „in den nächsten Wochen“ die polizeilichen Akten zu erhalten, dann könnten die jeweiligen Anwälte Einsicht bekommen und die Mandanten Stellung nehmen. Der Fahrer hat sich bislang nicht geäußert, „er macht von seinem Schweigerecht Gebrauch“. Das sei aber nicht ungewöhnlich. Auf Details geht Hadeler nicht ein, sagt aber: „Nach bisherigen Erkenntnissen gehen wir von einer situativen, spontanen Tat aus.“