Nadia Mispelbaum und Kathrin Kahnert gründen einen Unverpackt-Laden. Im Abendblatt erzählen die beiden, was sie dabei erleben
Norderstedt Plötzlich sind da Fähnchen, wo zuvor keine waren. Nur ein Stück von ihrem eigenen Fähnchen entfernt. Als Kathrin Kahnert (40) vor einigen Monaten im Internet auf der Seite des Verbandes der Unverpackt Läden ihr Gründungsvorhaben in Norderstedt markiert hat, war ihr Fähnchen das einzige in der Region, das einzige im weiten Umkreis. Doch seit Kurzem werden noch weitere Läden in Gründung in der Umgebung angezeigt. Die Fähnchen bestätigen Kathrin Kahnert (40) und ihre Geschäftspartnerin Nadia Mispelbaum (38), dass sie auf dem richtigen Weg sind. Dass es einen Markt für Unverpackt-Läden gibt – und sie ihn erkannt haben. Es ist ein Herzensprojekt von ihnen. Den Kunden die Möglichkeit zu geben, Waren ohne Verpackung zu kaufen, Müll zu reduzieren. Und damit etwas zum Umweltschutz beizutragen. Es ist noch gar nicht lange her, da haben sie sich über genauso ein Fähnchen auf der Seite des Unverpackt-Verbandes kennengelernt. Ein Fähnchen, mit dem Kathrin Kahnert die Gründung ihres Ladens in Norderstedt anzeigte – und das Nadia Mispelbaum auf der Suche nach einer Gleichgesinnten entdeckte. Am Anfang war es nichts weiter als ein grüner Punkt auf der Karte. Doch seit Kurzem steht dort auch der Name ihres Projektes. Die Waagschale GmbH (in Planung).
Die Planung läuft auf Hochtouren. Denn bereits im Juni soll der Laden eröffnen. So der Plan. Sie haben beim Notar die Gründung einer GmbH veranlasst, ihre sicheren Jobs gekündigt und sogar bereits eine geeignete Immobilie gefunden. Ein leerstehendes Einzelhandelsgeschäft in Norderstedt Nord, das sie bereits ab April anmieten wollen. Sofern die benötigte Nutzungsänderung vom Bauamt genehmigt wird. Da in dem Laden zuvor keine Lebensmittel verkauft wurden, muss eine Nutzungsänderung beantragt werden. Eine Routinesache, hieß es. Doch jetzt ist es schwieriger als zuvor gedacht.
Es gibt Momente, da fühlen sie sich selbst wie ein Fähnchen im Wind, das hin und her gepeitscht wird. Mal mit Rückenwind, mal mit Gegenwind. Wenn sie sich morgens an die Arbeit machen, Kathrin in Norderstedt an ihrem Esstisch und Nadia in Kisdorf am Schreibtisch, wissen sie nie, aus welcher Richtung der Wind weht. Ob sie bei ihrem Projekt vorwärts kommen und zurückgeworfen werden. Manchmal ändert sich das von einem Moment zum anderen, dann schlägt Zuversicht in Zweifel um, Euphorie wird zu Frustration. Je nachdem, was gerade passiert.
Es ist einiges passiert, aber nicht genug in ihren Augen. Sie sind ruhelos, rastlos. Beide haben inzwischen ihre Jobs aufgegeben und hätten viel Zeit, um richtig loszulegen. Doch so richtig nutzen können sie diese noch nicht. „Uns sind derzeit die Hände gebunden“, sagt Nadia Mispelbaum. Weil sie derzeit keinen Einfluss auf die Dinge haben. Weil sie nicht agieren können, sondern abwarten müssen. Abwarten, dass die GmbH ins Handelsregister eingetragen wird – damit sie die Crowdfunding-Aktion zur Finanzierung des Sortiments starten können. Abwarten, dass der Antrag auf Nutzungsänderung vom Bauamt genehmigt wird – damit sie mit dem Umbau beginnen können.
Wenn – dann. Noch nie in ihrem Leben schienen diese beiden Worte so eng miteinander verbunden zu sein wie jetzt. Ohne das eine geht das andere nicht. Erst wenn sie wissen, wie viel Geld beim Crowdfunding zusammengekommen ist, können sie planen, wie umfangreich ihr Sortiment sein wird – und welche Lebensmittelspender sie kaufen können, von denen einige dreimal so viel wie andere kosten. Das Problem: Die Lieferzeit für einige dieser sogenannten Bins beträgt bis zu drei Monate. Daher werden sie vermutlich nicht bis Ende des Finanzierungszeitraums Mitte April mit der Bestellung warten können, weil eine Lieferung einiger Bins sonst nicht mehr bis zur Eröffnung möglich wäre.
Immer wieder gehen sie in Gedanken alles durch, kalkulieren mit verschiedenen Summen, stellen Pläne auf und verwerfen sie wieder. Es ist eine Gleichung mit zu vielen Unbekannten.
Vor drei Wochen haben sie erfahren, dass die Bank den Kredit bewilligt hat. 80.000 Euro. Es ist einen Tag vor dem Geburtstag von Nadia Mispelbaum. Als sie an diesem Morgen runter ins Wohnzimmer kommt und den Geburtstagszug mit der 3 und der 8 sieht, muss sie grinsen. Das Gefühl an diesem Tag ist unbeschreiblich, die Euphorie überwältigend. Ihre Geschenke sind in Baumwoll-Beuteln eingepackt. Eine Stehlampe aus Bambus, neues Geschirr. Von ihrem Vater bekommt sie GN Behälter. Edelstahl Behälter für Lebensmittel laut Gastro-Norm. Er weiß, dass sie die für den Laden braucht. Ihr Vater ist Großküchentechniker.
Am Ende des Tages fragt sie sich kurz, wie es wohl nächstes Jahr sein wird. Wie und wo sie dann wohl feiern wird. Wird sie im Laden stehen und arbeiten. „Oder eine Bank ausrauben, weil wir pleite gegangen sind“, sagt sie und lacht. Es ist ein Scherz, natürlich. An diesem Tag ist es unvorstellbar, dass aus dem Laden nichts werden könnte. Dass der Traum platzen könnte.
Zwei Tage später bekommt Kathrin Kahnert ein Schreiben vom Bauamt. Darin heißt es, dass beim Prüfen der Nutzungsänderung aufgefallen sei, dass Unterlagen fehlen oder nicht korrekt eingereicht wurden und nachgereicht werden müssen.
Kathrin und Nadia sind ratlos, wissen nicht, was falsch gelaufen ist. Eigentlich schien alles klar gewesen zu sein, als sie sich im Januar telefonisch beim Bauamt nach dem Vorgehen erkundigt haben. Eine reine Formsache, schließlich muss nur eine Trennwand gezogen werden. Sie zeichnen diese in den Grundriss und reichen die Unterlagen ein. Mehr als einen Monat ist das her. Einen Monat, in dem die Unterlagen geprüft und zurückgeschickt wurden. Sie hoffen, dass sie die Zeit nicht verloren haben.
Manchmal kommen sie sich vor wie in einem dieser Filme, in denen man permanent die Zeit ticken hört. Die Zeit ist knapp. Jede Verzögerung wirft sie weiter zurück. Bis zu drei Monate kann die Prüfung des Bauamtes dauern. „Wenn es jetzt länger als bis zum 1. April dauert, kann es sein, dass wir die Eröffnung um ein paar Wochen verschieben müssen“, sagt Nadia.
Es scheint als ob die Arbeit immer mehr wird. Jeder Punkt auf ihrer Liste zieht andere nach sich. Statt den Punkt „Antrag auf Nutzungsänderung“ abhaken zu können, setzen sie weitere Punkte darunter: Ein neuer Grundriss muss beschafft und eingereicht, Gespräche mit dem Makler und der Eigentümerin geführt werden.
Am liebsten würden sie alles selbst erledigen. Sie sind zwei Macherinnen, agieren lieber als zu reagieren. Doch sie lernen gerade, dass sie nicht alle Prozesse steuern können. Dass Abwarten ein großer Teil des Gründungsprozesses ist. Es ist ein schwerer Teil, vielleicht der schwierigste. Warten. Nichts tun zu können. Es sei wie im Schwebezustand. Schweben, durch die Luft fliegen. Klingt nach Leichtigkeit, Unbeschwertheit. Bedeutet für sie aber das Gegenteil. Weil schweben auch heißt, die Bodenhaftung zu verlieren.
Es fällt ihnen schwer, loszulassen. Die Fäden aus der Hand geben zu müssen. Sie sind es gewohnt, alles selbst zu wuppen. Kinder und Job, Haushalt und Homeschooling. Ihnen war es immer wichtig, arbeiten zu gehen, eigenes Geld zu verdienen. Auch als Mütter – oder gerade dann. Umso schwerer ist es, jetzt arbeitslos zu sein. Auch wenn es Mittel zum Zweck ist und sie die Gründung niemals parallel zu ihren Jobs hätten durchziehen können – sie haben ein bisschen damit zu kämpfen, dass sie jetzt finanziell von ihren Männern abhängig sind.
„Das hat nichts mit Feminismus zu tun, sondern mit Pragmatismus“, stellen Nadia und Kathrin klar. Da sie selbst für das Gründungsvorhaben ihre Jobs gekündigt haben, steht ihnen derzeit kein Arbeitslosengeld zu. Sie leben von ihren Ersparnissen. Doch die sind begrenzt. Je länger sich die Eröffnung ihres Ladens „Die Waagschale“ verzögert, umso existenzieller wird die Situation.
Eigentlich wollen sie in diesen Tagen den Mietvertrag unterzeichnen, damit sie zum 1. April reinkönnen. Die Immobilie steht leer, sie könnten sofort anfangen, Teppiche rauszureißen und Vinyl zu verlegen. Doch solange sie nicht wissen, ob die Nutzungsänderung genehmigt wird, dürfen sie nicht starten. Sie müssen abwarten.
In dieser Zeit tun sie alles, was es zu tun gibt. Hauptsache, sie können überhaupt etwas machen. Sie kontaktieren Händler und Lieferanten, holen Kostenvoranschläge für Kassensystem ein und arbeiten an der Präsentation der Crowdfunding-Aktion. Damit diese sofort starten kann, sobald ihre GmbH eingetragen ist. Damit sie nicht noch mehr Zeit verlieren.
Dann endlich kommt die Nachricht vom Amtsgericht. Der Moment ist vollkommen. Doch er hält nicht lange an. Kathrin Kahnert fällt auf, dass sie als alleinige Gesellschafterin eingetragen ist. Nadias Name taucht nirgendwo auf. Irritiert wendet sie sich an ihren Notar – und erfährt Unglaubliches. Der Brief ist nicht echt. Betrüger verschicken Briefe wie diesen an die frisch eingetragenen GmbHs, um dafür 970 Euro zu kassieren. „Nicht auszudenken, wenn wir das Geld gezahlt hätten. Dann wäre es weg gewesen“, sagt Kathrin Kahnert. „Gründung heißt nicht nur Selbstverwirklichung“, so das Fazit. Fachleute sprechen meistens von Existenzgründung. Weil es um Existenzen geht. Auch wenn die Rechnungen falsch war – die GmbH wurde eingetragen. Das teilt man ihnen beim Notar mit. Da die Gründung der GmbH jetzt offiziell ist, kann die Crowdfunding-Aktion starten, mit der Nadia Mispelbaum und Kathrin Kahnert im Internet um Unterstützung für Norderstedts ersten Unverpackt Laden werben wollen.
Das Prinzip: Unterstützer können unterschiedliche Beträge in das Projekt einbringen und sich im Gegenzug dazu ein Dankeschön aussuchen, zum Beispiel Einkaufsgutscheine, ein Starterset mit Gläsern oder sogar eine Produktpatenschaft, bei der der Unterstützer namentlich auf dem Etikett des Produktes genannt wird. Ihr Mindestziel: 10.000 Euro. Mit dem Geld soll das Sortiment bereits von Anfang an viel breiter aufgestellt werden, als es sonst möglich wäre. Denn trotz Kredit: Das Budget ist vor allem für den Umbau sowie die Einrichtung des Ladens und den Ersteinkauf des Grundsortiments eingeplant. Etwa 25.000 Euro des Kredits haben sie für die Erstbestellung der Waren einkalkuliert. „Damit können wir etwa 350 Produkte anbieten“, sagt Kathrin Kahnert und rechnet vor, dass allein ein 25-Kilo-Sack mit Mandeln mehrere hundert Euro kostet. Je mehr Geld zusammen kommt, desto umfangreicher kann das Sortiment schon zu Beginn gestaltet werden. Zum Beispiel soll in eine Nussmusmaschine oder Getreidemühle investiert werden.
Bereits an diesem Wochenende beginnt im Internet die so genannte Schwarmfinanzierung. „Die vielen positiven Rückmeldungen zeigen, dass unser Projekt in und um Norderstedt großen Anklang findet“, so die Gründerinnen. „Wir wünschen uns, dass das Crowdfunding gut angenommen wird, um ein bestmögliches unverpackt Einkaufserlebnis anbieten zu können.“
Sie sind gespannt, wie viel zusammenkommen wird. Sie müssen abwarten.
Wer sich über das Projekt informieren möchte, kann das im Internet unter www.startnext.com/die-waagschale.