Zahra Khalajani Dinzar ließ ihre Familien im Iran zurück, um in der Asklepios Klinik Nord-Heidberg eine „Anpassungsqualifizierung“ für internationale Pflegekräfte zu absolvieren.

Als Flug Tk 1663 um 17.12 Uhr in Hamburg landet, ist Zahra Khalajani Dinzar (38) noch zu Hause in ihrer Wohnung. Sie weiß, dass es jetzt noch zu früh wäre, um zum Flughafen zu fahren. Es wird noch dauern, bis die anderen ihr Gepäck haben und durch die Passkontrolle sind. Sie hat das selbst gerade erlebt, als sie vor drei Wochen aus dem Iran zurück nach Deutschland gekommen ist. Damals hat die Abfertigung fast eine Stunde gedauert. Vor 18 Uhr muss sie heute also gar nicht erst da sein. Trotzdem ist sie unruhig. Sie zupft ein letztes Mal die Bettdecke zurecht und kontrolliert den Abendbrottisch. Alles soll perfekt sein, wenn die anderen kommen. Wenn sie ihr neues Zuhause zum ersten Mal sehen. Dann blickt Zahra auf ihre Uhr, es ist 17.25 Uhr, Zeit zu gehen. Vor dem Haus liegt ein bisschen Schnee, die Straße ist glatt. Zahra lächelt, sie weiß, dass sich die Jungs darüber freuen werden, sie lieben Schnee. In der Hand hält sie einen Bund weißer Tulpen. Sie hat die Blumen für ihren Mann gekauft. Sie ist bereit.

309 Tage hat sie auf diesen Tag gewartet, sich immer wieder vorgestellt, wie es sein wird. Im März 2021 ist sie nach Deutschland gekommen, um hier eine sogenannte Anpassungsqualifizierung für internationale Pflegekräfte zu machen. Ihr Mann und ihre Söhne Kian und Karen, gerade einmal sechs und acht Jahre alt, mussten im Iran bleiben. Keiner von ihnen wusste, dass es neun Monate dauern würde, bis sie sich wiedersehen. Erst Ende vergangenen Jahres konnte Zahra das erste Mal in ihre alte Heimat fliegen, die schon lange nicht mehr ihr Zuhause war. Wenn sie vom Iran spricht, spricht sie meistens von „früher“ oder sogar von ihrem „alten Leben“. Sie hat sich in den vergangenen zehn Monaten in Deutschland ein neues Leben aufgebaut, für sich und ihre Familie. Heute ist der Tag, an dem ihr altes und ihr neues Leben verschmelzen.

Als sie am Flughafen ankommt, hat die Gepäckausgabe bereits begonnen. So steht es auf den Bildschirmen, auf denen der Status der ankommenden Maschinen angezeigt wird. Zahra geht schneller, die Sohlen ihrer weißen Turnschuhe quietschen leise bei jedem Schritt. Jetzt sind es nur noch wenige Minuten, dann sieht sie ihre Familie wieder. „Dann beginnt ein neuer Lebensabschnitt“, sagt Zahra und bleibt vor der Tür zur Gepäckabfertigung stehen. Vor zehn Monaten ist sie selbst durch diese Tür gekommen, mit nichts als zwei Koffern und der Hoffnung auf ein besseres Leben.

Die Tür ist wie eine Trennlinie, wie ein Übergang zwischen zwei Welten. Hier und dort. Draußen und drinnen. Vergangenheit und Zukunft. Als sich die Tür um 17.53 Uhr öffnet und ihr Mann mit den Kindern rauskommt, verschwimmt die Grenze, die Zeit. Gestern, heute und morgen verlieren die Bedeutung, es zählt nur noch dieser Moment.

Später wird Zahra sagen, dass in diesem Moment alles um sie herum an Bedeutung verliert, dass sie nichts wahrgenommen hat außer ihrer Familie und dem Gefühl, ihre Kinder im Arm halten zu können. Immer wieder fährt sie Karen und Kian, die jetzt neun und sieben Jahre alt sind, durch die Haare und legt eine Hand auf den Arm ihres Mannes Amin Mirzaei (36). Er schiebt einen schwer beladenen Gepäckwagen vor sich her. Sie haben 95 Kilo Gepäck mitgebracht, vor allem Kleidung und ein paar Spielsachen. Den Rest haben sie im Iran gelassen, bei der Mutter von Amin Mirzaei.

Als Zahra vor fast einem Jahr nach Deutschland gegangen ist, sind die Kinder zu ihrer Schwiegermutter gezogen. Es war schwer für sie, der Oma die Rolle der Mutter zu überlassen, zu erleben, wie sich die Kinder immer mehr von ihr entfernt haben. Es gab Zeiten, da wollten ihre Söhne nicht mal mehr mit ihr sprechen. Sie hat gehört, dass das normal sei. Aber getröstet hat sie das damals nicht.

Karen und Kian sind übermüdet, total erschöpft. Sie haben seit 24 Stunden nicht geschlafen. „Sie konnten vor Aufregung die letzte Nacht nicht schlafen“, übersetzt Zahra die Worte ihres Mannes Amin. Er spricht persisch. In den vergangenen Monaten hat er das Sprachzertifikat A1 gemacht, es bestätigt ganz einfache Sprachkenntnisse und entspricht der ersten Stufe auf der sechsstufigen Kompetenzskala des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens für Sprachen.

Amin glaubt, dass es ihm hier leichter fallen wird, Deutsch zu lernen. Zahra lächelt, sagt aber nichts. Sie hat selbst noch Probleme mit der Sprache, dabei hat sie im Iran bereits das Sprachzertifikat B2 gemacht und lebt seit fast einem Jahr in Deutschland. In den vergangenen Monaten mussten andere oft für sie übersetzen – jetzt tut sie es für ihre Familie. „Das wird schon“, sagt sie und bemüht sich um Optimismus. Heute will sie sich keine Sorgen machen.

Sie möchte, dass es ihrer Familie hier gefällt. Während der Fahrt zeigt sie immer wieder aus dem Fenster und macht die Kinder auf besondere Orte aufmerksam. „Hier, bei Decathlon, habe ich eure Rucksäcke gekauft. Dahinten ist Roller, da habe ich ein paar unserer Möbel gekauft. Und da Mediamarkt! Da kaufen wir uns bald einen Fernseher.“

Sie hat in den vergangenen Wochen die Wohnung eingerichtet, damit sich ihre Familie dort wohlfühlt. Nur das Kinderzimmer ist noch nicht fertig. Zahra hat es nicht geschafft, die beiden Betten von Ikea aufzubauen. „Muss mein Mann heute Abend noch machen“, sagt Zahra. Sie hat heute Nachmittag die Wohnung geputzt und Essen vorbereitet. Sie legt viel Wert auf eine gesunde Ernährung, weil ihr Mann Fitness-Trainer ist. Die Familie isst viel Obst und Gemüse. Aber heute Abend soll es Kebab-Fleisch und Pommes geben. Ist schließlich ein besonderer Tag, sagt sie. Es ist Tag eins ihres neuen Lebens.

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Vier Tage später:

Karen und Kian öffnen in kurzen Hosen und T-Shirts. In der Wohnung ist es warm. Im Flur stehen zwei große Tüten von Roller, sie waren heute zusammen einkaufen. „Um die Wohnung zu dekorieren“, sagt Zahra und zieht ein Paket mit eingepackten Vorhängen aus der Einkaufstasche. Es muss noch schöner werden, findet Zahra. Das sagt sie immer wieder, das ist wichtig, damit aus der Wohnung ein Zuhause wird. 500 Euro hat sie heute für Gardinenstangen, Vorhänge und ein paar Lampenschirme aus Papier ausgegeben. Im Moment haben sie nur eine kleine Tischlampe, die sie immer in dem Zimmer einstecken, in dem sie Licht brauchen. Das Asklepios Willkommenszentrum hat ihr Möbelspenden angeboten, um die Wohnung einzurichten, doch Zahra hat abgelehnt. Sie weiß, dass Bahman Taghi Zadeh (31), mit dem sie gemeinsam die Anerkennung gemacht hat, auch in den nächsten Wochen umzieht. Irgendjemand hat ihr das erzählt. Zahra und Bahman haben kaum noch Kontakt. Sie führen beide jetzt ein eigenes Leben.

Heute Morgen ist Zahra mit ihrer Familie zum Meldeamt gefahren, um eine Meldebestätigung für Amin und die Kinder zu beantragen. „Das ist sehr wichtig“, sagt Zahra und gibt das wieder, was man ihr heute im Asklepios Willkommenszentrum gesagt hat. Sie brauchen die Anmeldebestätigung, um einen Antrag auf Kindergeld zu stellen und die Jungs an der Schule anzumelden. Karen kommt zunächst in eine internationale Vorbereitungsklasse, in der Schüler aus dem Ausland unterrichtet werden, deren Deutschkenntnisse für den Besuch einer Regelklasse nicht ausreichen. Kian, als Erstklässler, besucht jedoch eine Regelklasse und lernt dort lesen und schreiben. Auch wenn Zahra sich nicht vorstellen kann, wie er das schaffen soll. „Er kann doch gar kein Deutsch. Wie soll er die anderen verstehen.“

In den letzten Monaten im Iran sind die Kinder nicht mehr zur Schule gegangen, sondern zu Hause unterrichtet worden. „Zu viel Propaganda in Schule“, sagt Zahra. Wenn sie über den Iran redet, spricht sie immer ein bisschen leiser. Sie ist sehr vorsichtig, was sie sagt. Schließlich lebt ihre Familie noch im Iran.

Karen und Kian daddeln am Handy. Eigentlich dürfen sie nur eine Stunde am Tag damit spielen, aber im Moment ist alles anders. „Ist nicht leicht für sie“, sagt Zahra. Abends muss sie sich zu den Jungs an Bett setzen und warten, bis sie eingeschlafen sind. Die Kinder wollen nicht allein sein. Sie hofft, dass Karen und Kian bald neue Freunde finden. Bis es soweit ist, übernimmt sie auch diese Rolle. Zusätzlich zu ihren anderen. Sie ist jetzt Freundin und Mutter, Ehefrau und Hauptverdienerin.

Im Iran haben Zahra und ihr Mann beide Geld verdient, jeder von ihnen 300 bis 350 Euro. Amin ist Fitness-Trainer und hat für einen Sportartikelhersteller als Fotomodell gearbeitet. Für Deutschland hat er bereits eine uneingeschränkte Erwerbstätigkeitserlaubnis bekommen, doch bevor er hier arbeiten kann, wird es vermutlich noch einige Monate dauern. Zahra muss alleine für den Lebensunterhalt der Familie aufkommen – das war Bedingung für einen Familiennachzug. Anspruch auf Sozialleistungen hat ihr Mann nicht.

Es wird finanziell eng für die Familie. Die Miete der Wohnung ist hoch. Zahras durchschnittliches Gehalt einer Gesundheits- und Krankenpflegerin wird gerade so reichen. „Wir haben ihr gesagt, dass die Wohnung eigentlich zu teuer für sie ist“, sagt Maximilien Thies vom Asklepios Willkommenszentrum. „Aber Zahra hat an der Wohnung festgehalten. Es war ihr sehr wichtig, ihrer Familie etwas bieten zu können.“ Thies unterstützt und betreut seit Jahren internationale Pflegekräfte für die Asklepios Klinik und hat viele Familienzusammenführungen organisiert. Daher weiß er, dass auf die großen Emotionen beim Wiedersehen die Ernüchterung folgt. „Für die meisten beginnt dann eine langwierige und schwierige Phase.“

Der Grund: Während des Anerkennungsprozesses sind die Pflegekräfte allein in Deutschland und werden umfassend von dem Asklepios Willkommenszentrum betreut. Sogar spezielle Wohnungen hat das Krankenhaus angemietet, für die die Pflegekräfte nur einen Teil der ortsüblichen Miete bezahlen. Nach dem Familiennachzug müssen die ausländischen Fachkräfte jedoch immer mehr Aufgaben übernehmen und sich selbst um Rundfunkbeiträge, Nebenkostenabrechnungen, Arzttermine, Kita-Plätze und Elternabende kümmern. „Auch wenn wir natürlich weiterhin behilflich sind, können wir nicht im gleichen Maße wie zuvor alles übernehmen, da dies den Rahmen des uns Möglichen übersteigt“, so Thies. Wenn Zahra über ihn spricht, nennt sie ihn Max. Er war lange Zeit ihr engster Vertrauter. Sie wird lernen müssen, sich zu lösen.

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Einen Tag später:

Sie haben einen Termin bei der Schule bekommen, ganz plötzlich. Zahra ist aufgeregt. Doch der Termin in der Schule ist nur kurz. „Wir haben nur Dokumente übergeben“, sagt Zahra. Karen und Kian wären am liebsten gleich da geblieben, doch sie sollen Montag wiederkommen. Dann geht es los. Sie werden es schaffen. Da ist sich Zahra sicher. Die Familie ist stark. Vor vier Monaten, als Zahra bereits in Deutschland war, hat sich ihr Mann ein Tattoo auf den Oberarm stechen lassen. Es ist nur ein einziges Wort. Strength. Stärke.