Das Amt Itzstedt will die Tangstedter Mühle für Flüchtlinge anmieten.
Als sich die Ukrainer an diesem Morgen vor der Tangstedter Mühle versammeln, um einen Ausflug zu machen, ahnt keiner von ihnen, das zur gleichen Zeit über ihre weitere Unterbringung gesprochen wird. Sie wollen heute den Wildpark Eekholt besuchen, die Landfrauen Tangstedt haben einen Bus mit Fahrer arrangiert und Proviant besorgt. Es gibt gekochte Eier und belegte Brötchen, Frikadellen und frisches Gemüse. Die Kinder spielen auf dem Weg und lachen, sie sind aufgeregt, übermütig. Sie haben Ferien. In der letzten Woche haben sie einen Deutsch-Intensiv-Kurs gemacht, jeden Tag drei Stunden. Die meisten von ihnen können jetzt schon ganze Sätze richtig sagen. Die Kinder haben sich mit der neuen Situation arrangiert.
Seit fünf Wochen leben die Flüchtlinge in der Tangstedter Mühle. Fünf Wochen, in denen sie ihre Angehörigen zurück und ihre Heimat verlassen haben, ihr altes Leben. Je länger sie von zuhause fort sind, um so schwieriger wird es, die Bilder aus dem Krieg mit ihrem eigenen Leben in Einklang zu bringen. Sich zu erinnern, dass das nicht im Fernsehen, in einem fremden Land passiert – sondern in ihrer Heimat. In den Städten, in denen sie bis vor kurzem gelebt haben – und ihre Angehörigen noch immer ausharren. Unbelievable. Dieses Wort ist immer wieder zu hören, wenn über den Krieg gesprochen wird. Auch die, die kaum Englisch können, verwenden das Wort. Nicht zu glauben.
Es ist kurz vor 10 Uhr, als die Flüchtlinge in den großen Reisebus steigen, der vor dem Hotel steht. Er soll sie in den Tierpark bringen. Und plötzlich, für einen Moment, holt die Erinnerung einige von ihnen ein und der Krieg ist ganz nah. Denn als sie das letzte Mal in so einen Bus gestiegen sind, waren sie gerade aus der Ukraine nach Polen geflohen und wurden nach Deutschland gefahren. Ein Unternehmer hatte den Transport organisiert und die Unterbringung der Flüchtlinge in der Tangstedter Mühle finanziert – für 60 Tage. Wie es danach weitergeht, das soll sich heute entscheiden.
In der Gemeinde gibt es derzeit nicht genug Wohnraum
Elf Kilometer entfernt im Sitzungssaal des Amtes Itzstedt, treffen sich zur gleichen Zeit Amtsleiter Torge Sommerkorn und Hotel-Besitzer Tim Regel-Riebling.
Die beiden kennen sich nicht persönlich, hatten aber schon mal telefonisch Kontakt. Denn bereits direkt nach Ausbruch des Krieges in der Ukraine Ende Februar hatten die Brüder Tim und Philipp Regel-Riebling dem Amt Itzstedt ihr Hotel als Unterkunft für Flüchtlinge angeboten. Damals kam die Kooperation nicht zustande, weil die Mühle kurzfristig von jenem Unternehmer angemietet wurde, der dort auf eigene Kosten geflohene Ukrainer unterbringen wollte. Doch dessen Finanzierung läuft jetzt bald aus.
Eine Stunde ist für das Gespräch terminiert. Die Beteiligten brauchen die Zeit. Sie müssen in den nächsten 60 Minuten ausloten, ob und unter welchen Umständen die Flüchtlinge nach Ablauf der vorfinanzierten Zeit in der Tangstedter Mühle bleiben können. Bereits im Vorfeld steht fest, dass es in der Gemeinde nicht genug Wohnraum für die Unterbringung der Menschen gibt. Das Problem beschäftigt Torge Sommerkorn seit Wochen. Bereits im März, als im Amt Itzstedt etwa 150 Flüchtlinge gemeldet waren, hatte er angekündigt, dass man im Notfall auch über die Unterbringung in Turnhallen nachdenken müsse. Seitdem ist die Zahl der geflüchteten Menschen aus der Ukraine weiter angestiegen.
Schnell steht für beide Parteien fest, dass man nach Ablauf der 60 Tage zusammenarbeiten möchte. Man müsse sich nur noch finanziell einigen, heißt es von den Beteiligten. „Wir wollen uns nicht am Krieg bereichern, brauchen aber einen gewissen Grundbetrag, um unsere Kosten zu decken“, sagt Tim Regel-Riebling. Diese Summe muss sich das Amt Itzstedt jetzt vom Kreis Stormarn genehmigen lassen, der letztendlich die Kosten übernehmen muss. Man sei jedoch vorsichtig optimistisch, eine Lösung zu finden, so Torge Sommerkorn. Schließlich sei Tangstedt kein Einzelfall, es gebe bereits andere Gemeinden, die ebenfalls Hotels anmieten.
Auch das leerstehende Pastorat spielt eine wichtige Rolle
Nach ersten Plänen sollen in der Mühle dauerhaft Flüchtlinge untergebracht werden – aber jeweils nur vorübergehend. „Sofern es die Zuweisungszahlen und unsere Wohnraumkapazitäten zulassen, planen wir dort eine Wohneinrichtung für Flüchtlinge, die der Gemeinde neu zugewiesen werden und von dort aus schrittweise integriert werden können. Mit den vielen ehrenamtlichen Angeboten vor Ort haben wir dort beste Voraussetzungen, eine optimale Integration zu erreichen“, so Sommerkorn. Im Moment seien das nur Gedankenspiele, in den nächsten Wochen sollen diese aber konkretisiert werden. „Wir arbeiten derzeit an einem Gesamtkonzept für die Wohnungssituation der Flüchtlinge, in das wir auch die Tangstedter Mühle integrieren wollen“, so das Fazit des Amts-Chefes. Ein weiterer Eckpfeiler sei zudem das Pastorat in Tangstedt, das seit einiger Zeit leer steht und mit Flüchtlingen belegt werden solle. Es bietet Platz für mindestens zehn Personen und ist bereits von Helfern komplett eingerichtet worden. Laut Sommerkorn könne es schon bald von den ersten Menschen bezogen werden. Auch wenn es derzeit vereinzelt den Trend unter den Flüchtlingen gebe, zurück in die Heimat zu kehren – „wir gehen nicht davon aus, dass die Zahlen abnehmen werden“, sagt der Amtsleiter und betont, dass man keine Kapazitäten abbauen werde. Im Gegenteil: „Meiner persönlichen Ansicht nach erleben wir gerade nur die Ruhe vor dem Sturm.“
Ortswechsel, zurück in Tangstedt: Der Bus ist bereit für die Abfahrt, doch ein Teil der Sitzplätze ist noch leer. Uschy Meyer von den Landfrauen kontrolliert ein letztes Mal ihre Liste. Knapp 50 Flüchtlinge hatten sich im Vorfeld für den Ausflug angemeldet, doch jetzt sitzen nur 19 Frauen und 18 Kinder im Bus. Eine Dolmetscherin fragt nach, klärt auf. Einige haben es sich spontan anders überlegt, eine andere Familie ist am Wochenende überraschend abgereist.
Die ersten Flüchtlinge sind in Richtung Heimat abgereist
Es sind Anna Kharuk und ihre vier Kinder. Sie ist die Frau des Pastors, die nach Ausbruch des Krieges zuerst nur ihre Kinder nach Polen in Sicherheit brachte, selbst aber zunächst in der Ukraine bei ihrem Mann blieb – bis sie schließlich gemeinsam nach Deutschland flüchteten. Kurz nach ihrer Ankunft hier verfasste sie eine emotionale Nachricht an die Menschen in der Gemeinde: „Ich möchte allen Einwohnern Tangstedts meine tiefe Dankbarkeit dafür aussprechen, dass sie uns Flüchtlingen geholfen haben!! Ich bete zu Gott für euch alle.“ Annas Tochter Bogdana war das erste Flüchtlingskind, das in Tangstedt Geburtstag feierte. Sie wurde acht Jahre alt.
Doch schon kurz danach veränderten sich die Nachrichten von Anna, die Familie wurde unzufriedener, beklagte die bis dato fehlende finanzielle Unterstützung des Amtes, und hatte großes Heimweh. „Ich habe schlechte Laune, ich vermisse mein Zuhause, meinen Mann. Die Kinder weinen um ihren Papa“, schreibt Anna etwa eine Woche vor ihrer Abreise an das Abendblatt. „Unser Herz bleibt in der Ukraine.“ Und, dann, ein paar Tage später: „Wir gehen, wenn es für die Kinder sicher ist.“
Zwei Tage später bekommt Anna Kharuk Besuch von ihrem Mann. Er durfte die Ukraine verlassen und sie besuchen, er will vier bis fünf Tage bleiben. So der Plan. „Er kann nicht hier bleiben. Er hilft der Kirche und dem Militär und Menschen mit niedrigem Einkommen. Er liebt die Ukraine“, schreibt Anna an das Abendblatt. Etwa 48 Stunden später verlässt sie mit ihrer Familie Tangstedt. Fünf Tage zuvor hat die Familie ihre Sozialleistungen erhalten – rückwirkend für März, im Voraus für April. Die Kharuks verabschieden sich nicht. Tim Regel-Riebling erfährt erst einen Tag später von dem Auszug der Familie.
Kurz danach schickt Anna noch eine WhatsApp an das Abendblatt. „Wir sind zu unserer Tochter nach Polen gefahren, mein Mann ist bereits in der Ukraine. Ich denke, dass wir bald nach Haus gehen werden.“ Donnerstag meldet sie sich noch einmal aus Polen: „Am Samstag geht es nach Hause. Alles wird gut!“