Norderstedt. Die große Integrationsfigur der Linken schlug der Norderstedter Wirtschaft ein ungewöhnliches Bündnis vor.

Das war schon eine ungewöhnliche Begegnung an Donnerstagabend in der Norderstedter „TriBühne“. Ausgerechnet Gregor Gysi, langjähriger Fraktionschef von PDS und Die Linke im Bundestag, hatten der Marketingverein Norderstedt und die IHK zu Lübeck als Stargast zu ihrem „Abend der Norderstedter Wirtschaft“ eingeladen.

Gysi war Wunschkandidat des Norderstedter Stadtmarketingvereins, sagte Vorsitzender Kai-Jörg Evers. „Eigentlich sollte sein Auftritt das Highlight zum Stadtjubiläum voriges Jahr sein“, so der Vorsitzende. Die Geburtstagsfeier sei aber wegen Corona ausgefallen. „Unser Verein ist unpolitisch“, betonte Evers. Und Norderstedt-Marketing-Geschäftsführerin Marie-Kathrin Weidner sagte: „Es ist uns lieber, wenn der Hauptredner polarisiert und die Gäste sich daran reiben und darüber diskutieren können, als wenn sie hungrig auf das Essen warten.“

Wegen des Sturms kam Gysi verspätet in Norderstedt an

Und der Gast aus Berlin hielt, was sich die Norderstedter Veranstalter von ihm versprachen. Leicht verspätet trat Gysi auf die Bühne. Sein Zug sei wegen des Sturms nicht pünktlich nach Hamburg gekommen, hieß es. Doch dann lauschten die 300 Gäste aus der regionalen Wirtschaft in der ausverkauften „TriBühne“ mehr als eine Stunde lang dem rhetorisch geschliffenen Parforceritt des Bundestagsabgeordneten und Rechtsanwalts durch die politische Landschaft. Es dauerte etwas, bis sich die Atmosphäre löste. Manche Wirtschaftsvertreter im Saal fremdelten zunächst und schienen nicht jede politische Aussage nachvollziehen zu können.

So forderte Gysi (73) am Ende seines Vortrags, dass die Linke und der Mittelstand ein Bündnis schließen sollten. Stille im Saal. Nicht die Partei, sondern die politisch und gesellschaftliche Linke, führte Gysi aus. „Ohne dieses Zweckbündnis schaffen wir es nicht“, sagte er und meinte damit, dass das Ungleichgewicht der Lastenverteilung hierzulande ausgeglichen werden müsse. „Der Mittelstand zahlt Deutschland“, sagte Gysi. Die ärmere, Hartz-IV- und Arbeitslosenschicht könnte nichts dazu beitragen. „Und an die Reichen, Konzerne und Großbanken trauen sie sich nicht ran“, sagte der Linken-Politiker. Auch die Ampel-Koalition führe die Vermögenssteuer nicht wieder ein, die es zu Helmut Kohls Zeiten noch gab. „Und der war bestimmt kein Sozialist.“ Da taute die Stimmung auf, es gab großes Gelächter im Saal.

Er habe keine Angst, dass der Bundestag die Regel kippe, die Die Linke trotz eines Stimmenanteils von 4,9 Prozent in den Bundestag bleiben ließ, geändert werde, erklärte Gysi. Nur wegen drei gewonnener Direktmandate, eines von Gysi, galt für sie die Fünf-Prozent-Hürde nicht. „Diese Gefahr besteht nicht. Die CSU steht bei 5,1 Prozent.“ Sollte sie beim nächsten Mal unter fünf Prozent rutschen, würde sie ohne drei Direktmandate aus dem Bundestag fliegen.

Der 73-Jährige fordert Mut zu wirklichen Reformen

Innenpolitisch sieht Gysi die Hauptgefahr von rechts. Dabei spiele die zunehmende Ungleichverteilung der Vermögen für ihn eine entscheidende Rolle. Seit 1998 hätten die reichsten zehn Prozent in Deutschland ihr Vermögen von 45 auf 56 Prozent steigern können, während das der ärmsten Hälfte von knapp drei auf unter ein Prozent gesunken sei. „Wenn das auf 0,5 Prozent sinkt, fliegt uns das ganze um die Ohren“, warnt Gysi – „und zwar von rechts“. Die Verunsicherung in der Gesellschaft wachse. „Viele Eltern wissen nicht mehr, ob es ihren Kindern einmal besser gehen wird.“

Aber das Land könnte umsteuern, sagte Gysi und nannte zwei Vorschläge. So würde es in den USA ein ganz einfaches Rezept gegen Steuerflucht geben, das selbst Präsident Trump nicht verändert hätte. Dort müsse jeder US-Bürger seine Steuern in den USA zahlen, ganz egal, wo er lebe. „Wir müssen Mut haben zu wirklichen Reformen und die Steuerpflicht an die Staatsangehörigkeit koppeln“, forderte Gysi.

Und dann war er wieder beim Mittelstand, der ja breit im Saal vertreten war. Sein Rezept, um die Arbeitskosten in Deutschland zu senken, sei es, die Lohnnebenkosten durch eine Wertschöpfungsabgabe zu ersetzen. Wenn die Wertschöpfung sinke, sinke auch die Abgabe und umgekehrt, führte Gysi aus. Auch bei diesem Vorschlag war das stille Raunen im Saal zu spüren. Die Sozialabgaben für die Mitarbeiter an den Profit zu binden, erschloss sich vielen Gästen nicht sofort. Das sei wohl etwas zu komplex, um gleich Beifall zu erhalten, zeigte Gysi aber Verständnis für das Verhalten der Anwesenden. Doch kurz darauf hatte er den Saal wieder voll im Griff und das Gelächter auf seiner Seite. 1990 habe er sich arge Sorgen um seine Partei gemacht. „Die stand damals am Abgrund. Jetzt fange ich an, mich für die Union zu interessieren.“

Genug Polarisierungspotenzial im Sinne Weidners dürfte dieser Auftritt gehabt haben. Wen IHK und Marketingverein im nächsten Jahr einladen, werde Anfang 2022 entschieden, sagte Geschäftsführerin Weidner.