Norderstedt. Zwei Männer sollen die Rauchwaren aus einem Netto-Zentrallager gestohlen haben. Doch die Anklage brach vor dem Amtsgericht zusammen.

Wie können Zigaretten im Wert von 280.000 Euro aus einem gesicherten Hochregallager spurlos verschwinden? Um diese Frage ging es gestern im Amtsgericht Norderstedt. Zwei Angeklagte mussten sich wegen des Vorwurfes des besonders schweren Diebstahls verantworten. Sie hatten in den Jahren 2019 und 2020 im Zentrallager des Discounters Netto in Henstedt-Ulzburg gearbeitet. Während ihrer Arbeitszeit, so die Anklage, hätten sie die Zigaretten aus dem Lager gestohlen, indem sie sie in Taschen oder Rucksäcken am Pförtner vorbeischmuggelten oder über den Zaun des Geländes warfen.

Den Angeklagten setzten die aus ihrer Sicht haltlosen Vorwürfen stark zu

„Ich distanziere mich von diesen Vorwürfen als Familienvater und als Staatsbürger in Uniform“, sagte Tobias M., einer der beiden Verdächtigen, gleich zu Beginn des Prozesses. M., 31 Jahre alt und mittlerweile Bundeswehrsoldat, war in der fraglichen Zeit Schichtleiter im Netto-Lager. Zum Prozess erschien der gepflegt aussehende, Brille tragende Mann im dunkelblauen Jackett, an seiner Hand ein goldener Ehering. Dass ihn die ganze Sache sehr mitnehme, betonte sein Rechtsanwalt. Dass er die Beschuldigungen nicht verstehe, betonte M. selbst. „Jeder der 300 Mitarbeiter hatte in dieser Zeit Zugriff auf die Waren.“

Auch der zweite Angeklagte Jan S. betonte vehement seine Unschuld. Der 25-Jährige, ein eher schmächtiger Mann mit Tätowierungen unter dem dunklen Hemd, arbeitete als sogenannter „Störungsbeseitiger“ im Netto-Lager. Ein nicht ungefährlicher Job, in dem es unter anderem darum geht, in Hochregale zu klettern. Er arbeite damals in der Schicht, die M. leitete.

Amtsrichterin Dr. Elisa Kuhne stellte den Angeklagten viele Fragen zu ihrer damaligen Arbeit. Wo und wann die Ware ankam, wo und wie genau sie gelagert wurde, wie die Abläufe waren, wer unbeobachtet an die Ware herankam. Tenor der beiden Angeklagten: Es wäre lebensgefährlich gewesen, während des Betriebs in ein Hochregal zu klettern, um dort etwas zu stehlen. Zudem habe Lücken bei der Erfassung der Ware gegeben, außerdem hätten viele andere Personengruppen für einen Diebstahl infrage kommen können: Fahrer, Pförtner, Kommissionierer, wie beide sehr detailliert darlegten.

Ein ehemaliger Kollege der Angeklagten hatte sie angezeigt

Warum saßen also ausgerechnet diese beiden auf der Anklagebank? Der ehemalige Lagerleiter Sebastian K. hatte sie bei der Polizei angezeigt. Er saß später auf der Zeugenbank, erklärte, worauf diese Anschuldigungen eigentlich beruhten. Während einer Inventur im Jahr 2020 sei aufgefallen, dass Ware im Wert von 200.000 Euro fehlte. Damals sei nichts unternommen worden, später hätten dann noch einmal sechs Paletten im Wert von 80.000 Euro gefehlt. Dann sei die Lagerleitung aktiv geworden, zumal es Gerüchte gegeben habe, dass in der Schichtzeit der beiden Angeklagten „merkwürdige Dinge“ vor sich gingen. K. und andere Vorgesetzte baten Lagerarbeiter zum Gespräch, fertigten Protokolle davon an. Allerdings, das räumte K. vor Gericht ein: „Das waren alles nur Schilderungen, ich selbst habe nichts mitbekommen. Es gibt keine Beweise.“

Zeugen zeichneten ein ganz anderes Bild der Arbeit in dem Lager

Mehrere Lagerarbeiter, die damals von der Geschäftsleitung ins Verhör genommen waren, traten nun auch als Zeugen vor Gericht auf. Hier ergab sich ein ganz anderes Bild - die „merkwürdigen Dinge“, die ein Lagerarbeiter sehr unkonkret schilderte, waren wohl einfach nur normale Arbeitsabläufe. Einer der Zeugen, Stephane T., reagierte mit Wut auf ein aus seiner Sicht falsches Gesprächsprotokoll aus Netto-Zeiten, das die Amtsrichterin vorlas. Daraus ging hervor, T. habe Vorwürfe gegen M. und S, die er vom Hörensagen gekannt habe, gegenüber den Chefs geäußert - T. sagte der Amtsrichterin aber, er habe der Geschäftsleitung nur ein paar allgemeine Sicherheitstipps gegeben.

Amtsrichterin Kuhne sprach die Angeklagten von allen Vorwürfen frei. Diese nahmen das mit großer Erleichterung auf. M. betonte, dass er hoffe, dass nun auch seine beruflichen Nachteile ein Ende hätten - wegen der Vorwürfe habe er nicht zum Feldwebel befördert werden können. S. sagte: „Ich habe wegen der Sache den Job gewechselt und bin umgezogen. Der Alptraum hat zweieinhalb Jahre gedauert. Jetzt brauche ich erstmal eine Zigarette.“