Kreis Segeberg. Immer mehr Politiker fordern ein Energieembargo gegen Russland. Für die Wirtschaft im Kreis Segeberg hätte es drastische Folgen.

Was tun, um Russland zu stoppen? Immer neue Schreckensbilder aus der Ukraine werfen diese Frage täglich auf. Und immer mehr Politiker in Europa fordern ein Energieembargo gegen Russland – unter Einbeziehung des Gas-Sektors. Die Bundesregierung ist dagegen, doch auch in Deutschland werden Forderungen nach einem Total-Boykott lauter. Und nicht zuletzt ist da auch noch die Möglichkeit, dass Russland seinerseits den Gashahn zudreht.

In Unternehmen im Kreis Segeberg herrscht deshalb hektische Betriebsamkeit. Firmen bereiten sich auf den möglichen Ernstfall vor, bilden spezielle Teams, prüfen eilig, wie sich Gas einsparen oder ersetzen ließe. Denn für nicht wenige Firmen ginge es im Fall der Fälle ums Überleben.

„Ein Szenario, in welchem die Gaslieferungen ausbleiben, hatte bis vor kurzem sicherlich niemand für realistisch erachtet“, sagt Lars Wrage, Geschäftsführer der Wirtschaftsentwicklungsgesellschaft des Kreises Segeberg (WKS). Ein Gasembargo träfe die regionale Wirtschaft deshalb unvorbereitet, entsprechend wären „die Auswirkungen für manche Unternehmen erheblich“.

Kathrin Osterloh, Energieexpertin der Industrie- und Handelskammer zu Lübeck (IHK), geht weiter: Ein Stopp der Gaslieferungen aus Russland wäre aus ihrer Sicht eine „Existenzbedrohung für alle produzierenden Unternehmen im Kreis Segeberg“. Eine Einschätzung, die Henner Jahnke, Geschäftsführer der Rudolf Dankwardt GmbH, bestätigt: „Ein sofortiges Ende des Gaslieferungen aus Russland wäre für uns absolut existenzbedrohend.“

Das Norderstedter Unternehmen produziert an seinem Sitz im Garstedter Gewerbegebiet und an einem weiteren Standort in Lübtheen in Mecklenburg-Vorpommern Kosmetikprodukte, im Auftrag von internationalen Konzernen und auch von Mittelständlern. 550 Menschen sind für das Unternehmen tätig. Warum Gas so wichtig ist, erklärt Jahnke so: „Wir brauchen sehr viel Wärme für die Produktion, unter anderem für die Erhitzung von Kesseln, in denen Produkte wie Duschgel hergestellt werden.“

Die Energie, so Jahnke, liefern derzeit an beiden Standorten Blockheizkraftwerke, die mit Gas befeuert werden. Würde kein Gas mehr fließen, etwa als Folge einer Rationierung durch die Bundesnetzagentur, „müssten wir unsere Werke sofort auf Null herunterfahren“. Auch ein Betrieb mit weniger Gas, etwa durch geänderte Produktionsabläufe, sei nicht möglich.

Ähnlich pessimistisch klingt Steffen Rode, Eigentümer des Unternehmens Lactoprot, das verschiedene Produkte aus Milch herstellt. Die Firma mit Sitz in Kaltenkirchen und weiteren Standorten in Lübeck und Leezen beschäftigt im Kreis Segeberg 210 Mitarbeiter. Rode sagt: „Auf Gas aus Russland können wir nicht verzichten.“ Denn bestimmte Prozesse seien sehr energieintensiv: „Wir brauchen Gas zum Beispiel, um Milchpulver herzustellen. Der Lufterhitzer für die Trocknung wird mit Gas befeuert.“

Derzeit werde geprüft, „einige Prozesse auf Propangas umzustellen“, dafür bräuchte die Firma aber einen Flüssiggastank, den sie bisher nicht habe. Und einige Dampfkessel könne man auf Heizöl umstellen, nur: „Wir haben keinen Öltank.“

Tesa SE hat eine Task Force zu Energiefragen gebildet

Mit ähnlichen Problemen beschäftigen sich derzeit viele andere Firmen im Kreis. Kathrin Ostertag drückt es so aus: „Alle sind am Rotieren, schauen, was sie zur Not abstellen könnten. Es geht ja um ihre Existenz.“ Abendblatt-Anfragen bei den Unternehmen werden zumeist eher knapp beantwortet. Vonseiten der Tesa SE in Norderstedt heißt es, die Gasversorgung sei für dieses Jahr, aufgrund längerfristig geschlossener Verträge, sicher. Aber man beobachte die aktuellen Entwicklungen sehr aufmerksam und habe eine Task Force eingerichtet. Das Chemieunternehmen Schülke & Mayr, ebenfalls ansässig in Norderstedt, hat auch einen Krisenstab gebildet, man analysiere „Produktion und Prozesse gerade sehr sorgfältig“, Details ließen sich derzeit nicht nennen. Ähnlich lautet die Antwort aus der Norderstedter Niederlassung des US-Pharmaunternehmens Johnson & Johnson: Man sei dabei, die Situation zu analysieren, kann aber nicht mehr sagen. Bei dem Norderstedter Mineralwasser-Hersteller Magnus hat man „aufgrund der drohenden Begleiterscheinungen des Krieges bereits vor einiger Zeit begonnen, Optionen zu prüfen und Hardware zu beschaffen, um den Betrieb der Anlage aus verschiedenen Energiequellen sicherzustellen“, teilt die Geschäftsführerin Gaby Gaßmann mit.

Wie wegkommen vom Gas – und das möglichst sofort? Diese Frage beschäftigt auch Henner Jahnke. Doch kurzfristige Lösungen sind für sein Unternehmen nicht in Sicht. Die schnellste Variante wäre die am wenigsten umweltfreundliche. Jahnke: „Wir könnten, mit einigen teuren technischen Umbauten, Gas durch Öl ersetzen. Das würde ein bis eineinhalb Jahre dauern.“ Eine Umstellung auf Elektrizität würde hingegen „zwei bis fünf Jahre“ dauern. Auch Steffen Rode betont, dass die Lactoprot nicht schnell umsteuern könne. Denn für den Einbau von Öl- oder Flüssiggastanks seien Baugenehmigungen nötig, und deren Erteilung könne „bis zu zwei Jahre“ dauern.

Wie konnte die regionale Wirtschaft, wie konnte ganz Deutschland in so eine fatale Abhängigkeit geraten? Kathrin Ostertag sagt dazu: „Ich fand es schon immer schrecklich, dass wir uns so abhängig von russischem Gas gemacht haben.“ Aber es seien leider, auf politischer und wirtschaftlicher Ebene, falsche Entscheidungen getroffen worden. Sie nennt ein Beispiel: „Wir als IHK haben uns vor 15 Jahren für den Bau eines LNG-Terminals in Lübeck eingesetzt, für Flüssiggas aus Norwegen. Aber die Politik hat leider nicht erkannt, dass das eine wichtige Infrastruktur gewesen wäre. Stattdessen wurde North Stream II genehmigt.“

Bürokratische Hürden verhindern Solaranlagen

Ostertag betont auch, dass es für Unternehmen immer noch nicht wirtschaftlich und auch mit bürokratischen Hürden verbunden sei, Solaranlagen oder Windkraftanlagen auf den Dächern zu installieren. Gas hingegen sei „in den letzten Jahren sehr billig“ gewesen, also hätten Unternehmen darauf gesetzt. So auch Henner Jahnke: „Wir haben uns alle sehr auf das Thema Gas verlassen. Gas galt ja lange Zeit als gute, relativ umweltfreundliche Brückentechnologie. Und sie war sehr kostengünstig. Blockheizkraftwerke wie die, die wir betreiben, wurden auch staatlich gefördert.“

Aus den Fehlern der Vergangenheit müsse man jetzt lernen, so Jahnke: „Wir müssen ganz klar unabhängig von fossilen Brennstoffen werden. Aus politischen und ökologischen Gründen.“ Wie das für sein Unternehmen aussehen könnte, skizziert er so: „Rund um unser Werk in Lübtheen haben wir viel Land. Da könnten wir uns langfristig vorstellen, Boden-Photovoltaik aufzustellen.“ Dann müsse aber auch die Leitungs-Infrastruktur vor Ort verbessert werden, damit Strom nach Norderstedt fließen kann und damit das Werk in Lübtheen Strom zukaufen kann, wenn mal die Sonne länger nicht scheint.

Auch Steffen Rode würde viel lieber auf erneuerbare Energien statt auf Gas oder Öl setzen, kann sich etwa vorstellen, Windräder auf das Firmengelände zu bauen. Aber er sagt auch: „Man müsste für so etwas schneller und einfacher Baugenehmigungen bekommen. Das würde massiv helfen.“

Die Bürokratie ist für Kathrin Ostertag nur ein Teil des Problems. Aus ihrer Sicht müssten die gesamten rechtlichen Rahmenbedingungen angegangen werden, diese nämlich hätten „die Eigenversorgung von Bürgern und Unternehmen mit Strom bisher verhindert.“ Aus ihrer Sicht ist „ein komplettes Umdenken“ nötig, hin zu einer dezentralen Struktur, in der sich Privathaushalte und auch Industrieunternehmen selbst mit Öko-Energie versorgen.

Es sind Vorschläge, die seit Jahrzehnten auf dem Tisch liegen. Und die jetzt, unter dem Druck der aktuellen Ereignisse, vielleicht endlich den nötigen Aufwind bekommen. Für manche Bereiche der Wirtschaft liegt in dem Damoklesschwert eines Gas-Stopps eine große Chance. Dazu WKS-Geschäftsführer Lars Wrage: „Die Branche der erneuerbaren Energien wird von der aktuellen Situation profitieren.“