Norderstedt. Dating-Apps sind derzeit sehr beliebt. Doch zufrieden macht das „Tindern“ nur wenige. Das Chatverhalten hat sich verändert.
Körper an Körper in der Disco Alptraum am Herold-Center zum wummernden Bass tanzen oder auf den hinteren Reihen im schummrigen Licht des Spectrum-Kinos knutschen. Das war einmal. Alles, was Lockdown und Abstandsregeln noch möglich machen, ist in diesen Tagen, mit Maske und kalten Fingern durch den Norderstedter Stadtpark zu schlendern.
Die Orte, um sich zu verlieben, sind rar geworden. Das trifft junge Singles besonders hart. Gerade jetzt sehnen sie sich nach Intimität – und suchen diese nun verstärkt online. Zum Beispiel auf Dating-Apps wie Tinder. Eine Plattform, die den Ruf hat, auf schnellen, unkomplizierten Sex ausgelegt zu sein.
Tinder hat ein recht einfaches Konzept. Anhand von ein paar Fotos und meist binnen weniger Sekunden entscheidet man, ob einem die Person gefällt, mit einem Wisch nach rechts, oder nicht, mit einem Wisch nach links. Finden sich zwei Nutzer gegenseitig attraktiv, gibt es ein „Match“ (Zusammentreffen) und sie können miteinander schreiben oder ein Videotelefonat führen.
Tinder boomt in Zeiten von Corona
Tinder boomt, seitdem die Corona-Pandemie ausgebrochen ist. Im ersten Lockdown wurden bis zu 52 Prozent mehr Nachrichten verschickt, und die Gespräche dauerten rund ein Viertel länger, heißt es in einer Pressemitteilung des Unternehmens.
„Die Gespräche sind tiefgründiger geworden. Das liegt daran, dass die Leute mehr Zeit haben, aber auch am Leidensdruck. Manche versuchen so, ihre Ängste zu kompensieren“, sagt die Psychologin und Wissenschaftlerin Johanna Degen, die an der Europa-Universität Flensburg (EUF) das Verhalten von Tinder-Nutzern erforscht. „Ganz neu während Corona ist, dass die Menschen sich verletzlich zeigen und Sachen schreiben wie ,Ich fühle mich einsam, schreib mich an’“, so Degen. Vor der Pandemie habe man sich eher stark und unabhängig präsentiert.
Christina, die ihren richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen will, hat das so erlebt: „Plötzlich hatte ich unglaublich viel Zeit, ich habe Stunden damit verbracht, auf Tinder zu chatten.“ Vor der Pandemie sei die 26-Jährige Politikstudentin aus Norderstedt zufrieden mit ihrem Singleleben gewesen. Tinder habe sie damals auch gelegentlich benutzt, aber vor allem im realen Leben gerne geflirtet und wechselnde Partner gehabt. Jetzt trifft sich die 26-Jährige nur noch mit Lars. Um das Infektionsrisiko kleinzuhalten, habe sie den Kontakt mit anderen Tinder-Bekanntschaften auf Eis gelegt. Aber auch, weil kalte Winterabende zu zweit einfach schöner seien.
Tinder-Nutzer chatten anders während der Pandemie
Das ist eine Verhaltensänderung, die Johanna Degen oft beobachtet. „Wir erleben gerade ein Trauma, eine Krisensituation. Was ich bisher beobachten kann, ist, dass sich viele mehr nach Qualitätsbeziehungen sehnen, auch als Kompensation.“ Menschen, die sich bewusst eine Person aussuchen, mit der sie exklusiv ihre sexuellen und beziehungsspezifischen Bedürfnisse in der Pandemiezeit ausleben, nennt sie „Covid-Lover“.
Doch nicht jeder findet auf Tinder, was er sucht. An einem einsamen Winterabend, kurz vor Weihnachten, hat sich auch der 19-Jährige Johann, der etwas nördlich von Norderstedt lebt, die Anwendung heruntergeladen. Vor der Pandemie wären Dating-Apps für ihn keine Option gewesen, sagt der Wirtschaftsstudent. Jetzt hat Johann auf Tinder mit so vielen Frauen gleichzeitig Kontakt, dass selbst interessante Gespräche untergehen. „Wenn ich eine coole Frau kennengelernt habe, lasse ich mich nicht auf sie ein. Man hat immer das Gefühl, es gibt noch jemand besseren“, sagt er.
Viele Nutzer haben nun höhere Ansprüche an einen Partner
Laut Tinder-Expertin Johanna Degen ist das Verhalten von Johann unter den Nutzern weit verbreitet. „Die Menschen suchen nach etwas Besonderem, schreiben dann aber mit ganz vielen, um die Chancen zu erhöhen, die eine Person zu finden. Da gibt es ein Missverhältnis“, betont sie. Außerdem hätten viele Nutzer jetzt viel höhere Ansprüche an potenzielle Partner. Das passe zum Zeitgeist der Optimierung, liege aber auch daran, dass Apps wie Tinder eine vermeintlich riesige Auswahl böten.
Das Gefühl, einer unter vielen zu sein, gefällt indes auch Johann nicht. Er empfindet es als belastend, plötzlich keine Antwort mehr zu bekommen, wenn das Gespräch eigentlich gut zu laufen schien. Es ist nämlich unüblich, seinen Tinder-Bekanntschaften mitzuteilen, dass man doch kein Interesse hat oder jemand anderen gefunden hat. Trotzdem benutzt Johann die App noch immer, schaut sich stundenlang Profile an und schreibt Textnachrichten, bis er genervt das Smartphone weglegt. „Aber was bleibt mir sonst übrig? Wer spricht zu diesen Zeiten denn noch Frauen auf der Straße an?“, fragt er.
Abrupte Kontaktabbrüche seien besonders verletzend
Viele Nutzer hätten ein ambivalentes Verhältnis zu der App, hat Johanna Degen festgestellt. Tinder biete zwar Chancen, um auch in Pandemie-Zeiten neue Menschen kennenzulernen. Auf der anderen Seite sei es aber belastend, der ständigen Bewertung durch Fremde ausgesetzt zu sein.
Und die abrupten Kontaktabbrüche seien besonders verletzend. Trotzdem kehren viele Nutzer zu der App zurück und beginnen die Suche nach dem perfekten Partner immer wieder aufs Neue. „Nach der Enttäuschung kommt dann wieder die große Hoffnung, die kollektiv an Tinder herangetragen wird. Urbane Mythen von glücklichen Tinder-Pärchen befeuern das“, sagt die Psychologin.
Um seine Nutzer in Flirtlaune zu halten, hat Tinder als kleinen Ersatz für echte Dates eine Videochat-Funktion eingeführt. Das Interesse der Nutzer hält sich allerdings in Grenzen. „Die Unterhaltung war ganz nett, aber nicht wirklich romantisch. Es ist kein Ersatz für echte Treffen“, erinnert sich Christina an ihr erstes und auch letztes Videotelefonat mit einem Fremden.
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„Videocalls sind erschöpfend für unser Gehirn, weil man permanent mit der Abwesenheit des anderen konfrontiert wird“, erläutert Degen. Man könne sich nicht riechen und spüren – gerade das aber sei für die Partnerwahl sehr wichtig. Außerdem sinke die Spannungskurve bei Onlinebekanntschaften relativ schnell, wenn man sich nicht treffen könne, so Degen.
Konventionelles Dating, so die Wissenschaftlerin, sei schon lange auf dem Rückzug. Eine globale Pandemie und die Vorstellung von vermeintlich glücklichen Tinderpärchen würden das Datingleben noch mal mehr in die digitale Welt verschieben. Außerdem spiele bei der Partnersuche jetzt auch noch eine Rolle, ob der andere eine Übertragungsquelle darstelle. „Das erinnert an die AIDS-Welle“, sagt Johanna Degen. Plötzlich sei es sexy, nur noch einen Partner zu haben. Das könne Raum für mehr Tiefgang in Beziehungen schaffen, mutmaßt die Tinder-Expertin. Vielleicht werde Monogamie wieder Trend.